Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Nachtrag. 
  
I. Staatsrechtliche Reformen und Reforn:- 
bestrebungen während der Kriegszeit. 
Der Ausbruch des nicht von uns, sondern nur durch die Ein- 
kreisungspolitik unserer Feinde verschuldeten Weltkrieges hatte 
das ganze deutsche Volk, ohne Unterschied der Parteistellung, 
Klassenzugehörigkeit und Weltanschauung, zur Verteidigung des 
Vaterlandes bereit gefunden. Es war in jenen tiefbewegten und 
bewegenden Tagen, als gäbe es keine Parteien mehr, nur noch 
Deutsche; und der Erste der Nation, Kaiser Wilhelm II., war 
auch der Erste, der dies, in weithin hallenden Worten, aussprach. 
Es begab sich vor allem, daß die Arbeiterklasse und ihre poli- 
tische Organisation, bis dahin nahezu ein Gegenstaat im Staate, 
sich entschloß, den Boden der grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit 
zu verlassen. Die Sozialdemokratie hat diese innere Einkehr und 
Umkehr — zunächst einmütig, bald freilich nur mehr in ihrer 
Mehrheit, indes eine radikale Minderheit sich unter dem Namen 
der „Unabhängigen“ nach links abtrennte, in die alte Oppositions- 
stellung zurückkehrte und in schneller Weiterentwicklung zu einer 
immer entschiedener revolutionären Partei wurde — auch äußer- 
lich, insbesondere durch Bewilligung der Kriegskredite und durch 
vielfaches Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien und 
der Regierung betätigt, und letztere zögerte nicht, diese Wand- 
lung durch Gegenleistungen anzuerkennen: so wurden die Führer 
der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung, 
zuerst mehr außeramtlich, dann auch amtlich, zu den Staats- 
geschäften herangezogen und die Gewerkschaften durch eine 
Änderung des Vereinsgesetzes! von lästigen Beschränkungen be- 
freit. Aber nicht nur durch das veränderte Verhältnis zur Sozial- 
demokratie, auch sonst erwuchs aus dem Kriege die Notwendigkeit 
innerpolitischer Reformen. Schon: in den ersten Kriegswochen 
hatte die Reichsleitung sich zu dieser Notwendigkeit bekannt, und 
der Staatssekretär des Innern, Dr. Delbrück, hatte für die geplanten 
Reformen den zusammenfassenden Ausdruck „Neuorientierung“ 
geprägt, ein Wort, welches alsbald in aller Munde war und pro- 
grammatische Bedeutung erlangte. 
Es handelte sich darum, in stärkerem Maße, als es bis dahin 
ı RGes. vom 26. Juni 1916, oben $ 230 N. 11.
	        
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