Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Gründung des Deutschen Reiches, $ 64. 193 
preußischer Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen Graf 
von Bismarck-Schönhausen, den Entwurf der Bundesverfassung 
ein®. Die Beratung derselben! dauerte vom 9. März bis zum 
16. April; der Entwurf erfuhr durch Amendements des Reichs- 
tages sehr wesentliche Abänderungen®e. Am 16. April erfolgte die 
Annahme desselben mit 230 gegen 53 Stimmen !!. Am folgenden 
Tage erklärte der Vorsitzende der Bundeskommissarien die An- 
nahme seitens der verbündeten Regierungen "2, 
[Damit war aber der Norddeutsche Bund noch nicht gegründet; 
seine Verfassung war noch Entwurf. Es war nur erst eine der 
Bedingungen verwirklicht, von deren Eintritt das Augustbündnis 
die Entstehung des „neuen Bundesverhältnisses“ abhängig machte: 
die Einigung zwischen Regierungen und Reichstag über den Inhalt 
der Bundesverfassung. Bevor jenes Bundesverhältnis ins Leben 
treten konnte, mußte, als letzte der vorgesehenen Bedingungen, 
noch die Zustimmung der partikularen Volksvertretungen und 
Ständeversammlungen, der Fandtage (Bürgerschaften), zu dem 
Verfassungsentwurf eingeholt werden. Dies geschah. Die Zu- 
stimmung wurde überall anstandslos erteilt. Sie bedeutete nicht, 
daß die Verfassung in den einzelnen Staaten Landesgesetz 
werden sollte (s. unten S. 194f.): sie galt der Verfassung über- 
haupt nicht als Gesetzentwurf, sondern als Vertragsbestand- 
teil: als Zubehör und Anlage des Augustbündnisses. Indem 
der preußische, sächsische usw. Landtag die Verfassung guthieß, 
konnte und wollte er seiner Regierung nicht die Ermächtigung 
erteilen, die Verfassung als Landesgesetz zu publizieren, sondern 
er wollte damit sein — bislang noch vorbehaltenes — Jawort 
dazu geben, daß seine Regierung gemeinsam mit den anderen 
verbündeten Regierungen das Augustbündnis erfülle, daß sie den 
® Sten. Ber. 41. 
10 Vgl. v. Sybel 6 49 ff. 
e Diese Abänderungen sind durchweg viel bedeutsamer und ein- 
schneidender als diejenigen, welche die Regierungen erreicht hatten (oben 
Anm.d) Vgl. v. Sybel 6 54 ff., 131 ff. So änderte der Reichstag die staats- 
rechtliche Stellung des Bundespräsidiums, welches aus einer hegemonialen 
(oben N. c) in eine bundesorganschaftliche Gewalt verwandelt wurde (vel. 
unten $ 127), und des Bundeskanzlers, der jetzt die ihm in den Ent- 
würfen nicht zugedachte Position eines leitenden, die Regierungsakte des 
Präsidiums verantwortlich kontrasignierenden Bundesministers gewann (An- 
trag Bennigsen, vgl. unten $$ 127, 135). Der Reichstag verstärkte ferner 
die Gesetzgebungs- und Beaufsichtigungskompetenzen des Bundes (Art, 4 
der nordd. B.v. zu vergleichen mit den entsprechenden Bestimmungen der 
Regierungsvorlage). Er fügte den Satz in die Verfassung ein, wonach das 
Wahlrecht zum Reichsta e nicht nur allgemein und direkt, sondern auch 
eheim sein soll. Er beschloß endlich die Aufnahme eines besonderen 
erfassungsabschnitts über die Bundesfinanzen (Abschn. XII der nordd. B.V.), 
worin dem Reichstage u. a. das volle Budgetrecht, das Recht der Kontrolle 
des Bundeshaushalts und das Zustimmungsrecht bei Aufnahme von Anleihen 
gewährt wurde. 
!! Sten, Ber. 729. 
12 Sten. Ber. 731. 
G. Meyer-Anschütz, Dentsches Staatarecht. I. 7. Aufl. 13
	        
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