Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Gründung des Deutschen Reiches, $ 64. 195 
Bündnisses, also Vertragsbestandteil, änderte ihren Charakter; sie 
war nun nicht mehr übereinstimmender Wille der Gründer, sondern 
Wille der Gründung, des von den Gründern geschaffenen neuen 
Rechtssubjekts: des Norddeutschen Bundes, Sie wurde aus einem 
Vertrage Gesetz, und zwar nicht „übereinstimmendes Landes- 
gesetz“k, sondern Bundesgesetz: sie ruhte nicht auf dem überein- 
stimmenden Willen der Einzelstaaten, sondern allein auf dem Willen 
der von den Einzelstaaten verschiedenen, sie alle überragenden 
Bundesgewalt. Sie wurde und war nur Bundesgesetz, nicht Ver- 
trag und Gesetz zugleich. Die vertragsmäßigen Grundlagen des 
Bundes erloschen, indem der Bund ins Leben trat; dieser Bund, 
der nicht sowohl ein Bund als ein Staat war, verzehrte das Ver- 
tragsband, welches ihn vorbereitet und lediglich zu dem Zwecke 
dieser Vorbereitung sich um die Einzelstaaten geschlungen hatte. 
Wenn es in der Einleitung der Nordd. B.V. hieß: „S. M. der 
König von Preußen, S. M. der König von Sachsen usw. schließen 
einenewigen Bund...“, so erzählen diese Worte lediglich den 
Hergang der Bundesgründung; sie berichten zutreffend, daß der 
Bund durch übereinstimmende Willenserklärung der Regierungen 
der 22 norddeutschen Staaten geschaffen sei. Mehr aber und etwas 
anderes als ein Bericht sind sie nicht, sie haben keine dispositive, 
sondern lediglich eine enuntiative Bedeutungl. Mit ihnen kann 
nicht bewiesen werden, daß die Verfassung „in der Form des Ver- 
trages auftrete“ m, 
Die rechtliche Natur der bundesgründenden Tat ist nicht die 
eines völkerrechtlichen Vertrages. Ein solcher Vertrag war das 
Augustbündnis, dessen Erfüllung jene Tat darstellt: in ihm ver- 
pflichteten die 22 Staaten sich gegenseitig, einen bestimmten Staat 
auf bestimmtem Wege zu gründen. Die Erfüllung dieser Ver- 
pflichtung ist kein Vertrag. Sie gleicht allerdings einem Ver- 
trage der Form nach, sofern sie eine übereinstimmende 
Willenserklärung Mehrerer ist. Inhalt und Zweck 
dieser Willenserklärung ist aber nicht, wie bei einem Vertrage, 
die Begründung (bzw. Anderung oder Beendigung) eines Rechts- 
verhältnisses, sondern die Schaffung eines Rechtssubjekts 
— eines neuen Staates — und die Setzung neuen Rechts 
— der Verfassung dieses Staates. Übereinstimmende Willens- 
erklärungen dieser Art werden in der modernen Rechtssprache 
nicht Verträge, sondern Vereinbarungen oder Gesamtakte 
genanntn, 
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes beruhte also weder 
auf einem „Vertrage“, noch war sie selbst ein Vertrag. Zu ihrer 
k A. M, Seydel; vgl. unten S. 199. 
ı A.M. die Voraufl. (6. A. 175) und Bähr, in den Preuß. J. 27 75. 
Vgl. dagegen Laband 1 90; Haenel, Studien 1 92ff.; Rehm, Staatsl. 136; 
Anschütz, Enzykl. 58. 
m So die 6. A. a.a. O0. 
n Vgl. unten 8. 201. 
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