Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Gründung ‚des Deutschen Reiches. $ 64. 199 
ein Grundgesetz des Volkes ist, und verkennt, daß diese Theorie wegen der 
gänzlich verschiedenen Verfassungsverhältnisse auf das deutsche Staatsrecht 
nicht obne weiteres übertragen werden kann. Ebenfalls von amerikanischen 
Anschauungen beeinflußt, aber den tatsächlichen Verhältnissen näherkommend, 
ist die Ansicht von Robinson in Z.StaatsW. 58 614 ff. Nach dieser wurde ° 
der Bund durch die Nation geschaffen, aber die Nation handelte durch die 
Einzelstaaten. 
4. Die Theorie Seydels. Nuch der Meinung von Seydel, Kom- 
mentar 15, dem Arndt, Kommentar zur Reichsverfassung 16, 20 ff. (5. Aufl. 
1913), Staatsrecht des Deutschen Reiches (1901) 31 folgt (Anklänge an Seydel 
auch bei Hatschek, Allgem. Staatsr. 8 47: „parallele Landesgesetzgebung‘“), 
ist die Bundesverfassung als übereinstimmendes Landesgesetz der 
beteiligten Staaten in Kraft getreten. Die Gründung eines (emeinwesens, 
insbesondere eines Bundesstaates, durch übereinstimmende Gesetze mehrerer 
Staaten ist aber überhaupt nicht möglich. Das Gesetz enthält verbindliche 
Willenserklärungen oder Befehle des Staates für die seiner Herrschaft unter- 
worfenen Personen; es kann daher eine Wirkung nur innerhalb des Staates 
äußern. [Die Bundesverfassung ist allerdings in den Einzelstaaten durch be- 
sondere Patente publiziert worden; aber diese Patente konnten und wollten 
die Bundesverfassung (die, da sie ein zwischenstaatliches Koexistenzverhältnis 
regelte, gar nicht durch einseitiges Landesgesetz gegeben werden konnte) 
nicht als Landesgesetz, ja überhaupt nicht als Gesetz publizieren; sie wollten 
vielmehr erklären, daß die 22 Staaten, vertreten durch ihre (im Einvernehmen 
mit den Landtagen handelnden) Regierungen, den durch die Bundesverfassung 
definierten Gesamtstaat gründen und demselben angehören wollen, sowie, 
daß dieser Gesamtstaat am 1. Juli 1867 sein Dasein beginnen soll. Das 
einzelne Publikationspatent ist nur formell ein Gesetz (d. h. ein gemein- 
samer Willensakt von Regierung und Landtag), materiell ein Glied eines 
22 stimmigen, konstitutiven, und zwar staatsgründenden Gesamtakts. Gegen 
Seydel und Arndt: Haenel, Studien 1 53 ff., 16, Staatsr. 1 29 (Leitsatz: „Die 
Bundesverfassung hat einen für das Landesgesetz jedes Staates unmöglichen 
Inhalt“); Zorn, Staatsr. 1 27, 28; Laband, St.R. 1 26; Rehm, Staatsl. 138 ff.; 
Anschütz, Enzykl. 57, 68.) 
5. Die Ansicht einiger Schriftsteller geht dahin, daß die Gründung 
eines Staates, also auch eines Bundesstaates, ein rein tatsächlicher Vorgang 
sei, der sich jeder juristischen Konstruktion entziehe. Zo zuerst Zorn, 
Staatsr. 1 30 und das. Anm. 30; Jellinek, Staatenverbindungen 262; Mejer, 
Einleitung 301; Borel, Etude sur la souverainete et l’&tat federatif 71, 130; 
Bornhak, Die vertragsmäßigen Grundlagen der Reichsverfassung, im 
Arch.OÖff.R. 7 329 ff., insbes. 356 ff,, Allg. Staatsl. 259 ff., sodann namentlich, 
in ausführlicher Begriffsentwicklung: Jellinek, Staatsl. 267 ff.. 737 ff, Diese 
Anschauung, welche sich steigender Beliebtheit erfreut (vgl. z. B, Seidler, 
Jurist. Kriterium des Staates [1905] 67 ff.,. 71; Pohl, Entstehung des belgischen 
Staates 38 ff., 50ff.; Derselbe im Arch.Off.R. 20 186; Grosch im Arch.Of.R. 
29 140 ff., 163, 176 f.), geht von der irrigen Voraussetzung aus, daß eine 
Rechtsordnung nur im Staate existiere, und fällt mit dieser. Die Gründung 
eines Staates, auch eines Bundesstaates, kann allerdings ein rein tatsäch- 
licher Vorgang sein, der ohne Rücksicht auf das bisher bestehende Recht 
erfolgt. In diesem Falle ist eine juristische Erklärung der Staatsentstehung 
nicht möglich. Die Gründung eines Staates kann aber auch so stattfinden, 
daß ein bestehender Rechtszustand unter Beobachtung und Wahrung recht- 
licher Formen eine Umbildung erfährt. In diesem Falle besteht auch die 
Möglichkeit, eine rechtliche Prüfung der betreffenden Vorgänge vorzunehmen 
und die Rechtmäßigkeit der fraglichen Neubildung nachzuweisen. Eine 
Prüfung der Entstehungsgeschichte des Norddeutschen Bundes ergibt aber, 
daß die Gründung des letzteren unter strengster Wahrung sowohl der 
völkerrechtlichen als der in den einzelnen Staaten bestehenden verfassungs- 
mäßigen Grundsätze erfolgt ist. Übereinstimmend: Laband, St.R. 1 35, 
Kl. A. 9; Haenel, Staatsrecht 1 35ff.; Le Fur a. a. O. 120, öö3 ff. (Deutsche 
Ausgabe von Le Fur und Posener 127, 128); Fleiner, Die Gründung des
	        
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