Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Der Herrschaftsbereich. $ 74a. 239 
[$ 74a. 
In der Gebietshoheit ist das Recht inbegriffen, die Grenzen 
des Staatsgebietes abzuändern, m. a. W. Gebietsteile abzutreten 
und neues Gebiet zu erwerben. Betrefis der staatsrechtlichen 
Formen, in denen die Grenzveränderungen vorzunehmen sind, gilt 
in den deutschen Einzelstasten und im Reich kein gleichheitlicher 
Rechtszustand. 
1. Von den Einzelstaatsverfassungen enthält die preußische 
vom 31. Januar 1850 hierüber die einfachsten und klarsten Vor- 
schriften. Sie bestimmt im Art. 1: „Alle Landesteile der Monarchie 
in ihrem gegenwärtigen Umfange bilden das preußische Staats- 
ebiet.“ Damit wird der zur Zeit des Inkrafttretens der Ver- 
assung bestehende territoriale status quo festgelegt; die Fest- 
legung würde, wenn Art. 1 allein stünde, Verfassungsgesetzeskraft 
besitzen und jede Gebietsveränderung mithin ein verfassung- 
änderndes Gesetz (Art. 107 preuß. VU.s) erfordern. Der Ver- 
fassungstext fährt jedoch im Art. 2 fort: „Die Grenzen dieses 
Staatsgebietes können nur durch ein Gesetz verändert werden.“ 
„Ein Gesetz“ ist ein einfaches, nicht verfassungänderndes Gesetz. 
Das hiermit ausgesprochene Erfordernis der Gesetzesform, d. h. 
eines im verfassungsmäßigen Zusammenwirken von Monarch und 
Volksvertretung ergehenden Staatswillensaktesb bezieht sich auf 
alle Grenzveränderungen, auf Gebietserwerbungen nicht minder 
wie auf Abtretungen; weder Zessionen noch Annexionen von 
Staatsgebiet darf in Preußen die Regierung ohne die in gesetz- 
geberischer Form betätigte Zustimmung des Landtags vornehmen. 
2. Abweichend hiervon ist nach dem Staatsrecht Bayerns, 
Sachsens, Württembergs und Badens die Gesetzesform bzw. die 
Zustimmung der Volksvertretung nur für die Abtretung von 
Staatsgebiet erforderlich, während Erwerbungen durch einseitigen 
Regierungsakt des Staatsoberhaupts bewirkt werden können. Für 
Sachsen und Württemberg ergibt sich dies aus dem Wortlaut der 
Verfassungsurkunden®, für Bayern und Baden aus dem überein- 
stimmenden Satze der Verfassungsurkunden dieser Staaten, welcher 
s Vgl. unten $ 157 a. E. 
b Wenn Art. 2 „ein Gesetz“ fordert, so meint er einen legislativen Akt, 
welcher in denselben Formen zustande zu bringen, zu sanktionieren und zu 
verkündigen ist wie jeder andere legislative Akt: Art. 62, 45, 106 der preuß. 
VU. Die bloße, formlose Genehmigung der Grenzveränderung durch den 
Landtag ist kein „Gesetz“ im Sinne des Art, 2, genügt also dem Verlangen 
dieses Artikels nicht. Die Grenzveränderung ist staatsrechtlich nicht gültig, 
wenn sie nicht durch die Legislative gutgeheißen und in der Form des Ge- 
setzes publiziert worden ist. Dieser — von der Wissenschaft stets, vgl. 
Anschütz, Komm. 75, 76, vertretenen — Ansicht hat sich in neuerer Zeit 
(seit 1877) auch die preußische Staatspraxis angeschlossen, während sie früher 
die einfache Genehmigung der Grenzveränderungsverträge für ausreichend 
hielt, Nähere Angaben hierüber bei Anschütz a. a. O. 76, 77. 
ce Sächs. VU. & 2, Württ. VU. 88 2, 85; vgl. O. Mayer, Sächs. St.R. 24; 
Göz, Württ. St.R. 17.
	        
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