Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Der Herrschaftsbereich. $ 75. 245 
Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes entstand neben 
der Staatsangehörigkeit die Bundesangehörigkeit. Dadurch, daß 
der Bund die norddeutschen Staaten zu einem größeren Gemein- 
wesen zusammenfaßte, wurde jeder Staatsangehörige gleichzeitig 
Bundesangehöriger. Die Staatsangehtrigkeit verlor damit aber 
keineswegs ihre Bedeutung. Wenn auch in bürgerlicher Beziehung 
die Angehörigen der deutschen Staaten einander gleichgestellt 
waren, so blieb doch die Austibung politischer Rechte innerhalb 
eines deutschen Staates von dem Besitz der Staatsangehörigkeit 
abhängig®. 
Der Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit richtete sich 
auch nach Gründung des Norddeutschen Bundes zunächst nach 
den Gesetzen der Einzelstaaten. Ein besonderes Bundesgesetz über 
die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörig- 
keit wurde am 1. Juni 1870 erlassen. Dasselbe ist später auf das 
ganze Reich ausgedehnt worden. An seine Stelle trat, nachdem 
es länger als vier Jahrzehnte in Geltung gestanden, das Reichs- 
und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913, die 
Quelle des heute geltenden Rechts des Erwerbes und Verlustes der 
deutschen Staatsangehörigkeit®?. 
Das Verhältnis von Staats- und Reichsangehörig- 
keit ist so gestaltet, daß die Staatsangehörigkeit als das prinzipale 
Rechtsverhältnis, die Reichsangehörigkeit nur als Ausfluß derselben 
erscheint!®. Die Verleihung der Staats- und Reichsangehörigkeit 
1. Juni 1870 wesentlich zum Vorbild gedient hat. Eine ausführliche Dar- 
stellung dee älteren Rechts der Staatsangehörigkeit in Württemberg 
geben Bazille und Köstlin a. a. O. 127. 
8 Der preußische Entwurf der Norddeutschen Bundesverfassung (oben 
8. 190) ging von einem anderen Gesichtspunkte aus. Nach ihm sollte 
der Angehörige jedes Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate in allen 
Beziehungen als Eingeborener behandelt werden, im ganzen Norddeutschen 
Bunde also nur ein Indigenat existieren. In den Beratungen der Regierungs- 
vertreter (oben S. 191) setzte man an Stelle der angegebenen Bestimmungen 
die jetzige Fassung des Art, 3 der RV. 
® RGBl. 583. Das Gesetz ist am 1. Januar 1914 in Kraft getreten. Es 
ist im folgenden abgekürzt als StAG. zitiert. 
10 RG. vom 1. Juni 1870 $ 1. Grundsätzlich steht auch das StAG. (vgl. 
vorige Note) noch auf diesem Standpunkt: StAG. $ 1. — In den Vereinigten 
Staaten besteht das entgegengesetzte System: die Bundesangehörigkeit er- 
scheint als das Prinzipale und die Staatsangehörigkeit ist nur Ausfluß der- 
selben. Hier ist der Bundesangehörige in demjenigen Staate, in welchem 
er seinen Wohnsitz hat, Staatsangehörger und genießt alle politischen Rechte: 
Zusatzartikel 14 zur Bundesverfassung. Vgl. Freund, Öff. Recht der Ver- 
einigten Staaten von Amerika (1911) 64, 65; Rüttimann, Das nordamerikanische 
Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen in der Schweiz, 
Bd. 1, Zürich 1867, $ 86ff.; E. Schlief, Die Verfassung der nordamerikanischen 
Union 191 fl.; Howard, Das amerikanische Bürgerrecht (Jellinek u. Anschütz, 
Staats- u. völkerrechtl. Abh., Bd. 4, Heft 3, Leipzig 1904). Die Schweiz da- 
gegen befolgt ein ähnliches System wie das Deutsche Reich, indem sie das 
weizerbürgerrecht an das Kantonalbürgerrecht knüpft; aber die politische 
Gleichstellung der Angehörigen verschiedener Kantone geht dort weiter als 
in Deutschland. Rüttimann a. a. O. $$ 98 u. 99.
	        
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