Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Organe $ 88, 293 
heiratung sogenannte Verzichte „auf den ledigen Anfall“ 
ausstellen zu lassen, d. h. Verzichte auf die Thronfolge bis zum 
Aussterben des Mannsstammes. Diese Sitte besteht auch jetzt 
noch in vielen Fürstenhäusern fort®. Doch beruht der Ausschluß 
der weiblichen Linie nicht auf den Verzichten, sondern auf gesetz- 
lichen und gewohnheitsrechtlichen Normen, welche durch die Ver- 
zichte nur eine ausdrückliche Bekräftigung erhalten. Die Frage, 
wer bei einer eventuellen kognatischen Sukzession als der zuerst 
Berufene anzusehen ist, haben einzelne Verfassungen ausdrück- 
lich entschieden. Sie lassen in der Regel die Nähe des Verwandt- 
schaftsgrades zu dem verstorbenen Herrscher, bei gleichem Ver- 
wandtschaftsgrade das natürliche Alter maßgebend sein®. In 
Ermangelung anderweiter Festsetzung erfolgt die Berufung der 
Kognaten nach denselben Grundsätzen, wie die des Mannsstammes, 
also wenn ihr Anspruch aus einer Zeit stammt, wo die Primo- 
geniturordnung bereits eingeführt war, nach Erstgeburtrecht und 
Linealerbfolge”. Die früher vielfach ventilierte Frage, ob in 
diesem Falle die Erbtochter, d.h. die von dem letzten Besitzer 
abstammende oder mit ihm den nächsten gemeinsamen Stamm- 
vater habende weibliche Person oder Linie oder die Regredient- 
erbin, d. h. die früher durch den Mannsstamm ausgeschlossene 
weibliche Person oder Linie bevorzugt sei, ist in neuerer Zeit mit 
allgemeiner Übereinstimmung zugunsten der Erbtochter entschieden 
worden”. 
5 Bayr. Familienstat. Tit. V $ 3, Bad. Haus- und Familienstat. $ 2, 
K. Süche, Hausges. $ 15. Vgl. Rehm, Mod. Fürstenr. 52, 285 ff.; Eisenlohr 
a. 8. 0. . 
6 Württ. Verf. $ 7, Hess. Verf. Art. 5, Wald. Verf. $ 15, Schaumb.-Lipp. 
Verf. Art. 3. Die betreffenden Urkunden haben den Ausdruck „Nähe der 
Verwandtschaft“. Dieser deutet auf das Gradualsystem, nicht auf das 
Graduallinealsystem hin, wie eine vielfach verbreitete Ansieht (Reyscher, 
Publizistische Versuche 275 ff.; Zöpfl, St.R. ($ 253) 1 709 N. 8; H. Schulze, 
Deutsch. Staatsr. ($ 101) 1 237; Adamcezyk a. a. O. 77ff.; Pagenstecher, Die 
Thronfolge im Großh. Hessen (Gieß. Diss.) 76; Rehm a. a. O. 397) annimmt, 
reinstimmend: R. v. Mohl, Württemb. Staater. ($ 25) 1 163, 166 N. 14. — 
Nach der Sächs. Verfass. $ 7 entscheidet in erster Linie der Verwandtschafts- 
ad, bei gleichem Grade das Alter der Linie und in derselben Linie das 
lter der Person, in Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen 
Nähe der Verwandtschaft im Sinne des Lineal-Gradualsystems, eventuell 
höheres Alter (Schwarzb.-Rud. G. vom 1. Juni 1896 Art. 2, Schwarzb.-Sondh. 
G. vom 14. Aug. 1896). [Die Frage, welcher Kognat nach Aussterben des 
Mannesstammes der nächste zum Thron ist, läßt sich nur für jedes Landes- 
recht einzeln beantworten; ein „gemeines Recht“ hierüber gibt es nicht. 
A. M. Rehm a. a. O. 397, 398 (im Sinne des Lineal-Gradualsystems), der die 
S. 397 Anm. 1 zitierte Stelle (Anschütz, Enzyklop. 131) mißversteht. 
? Ausdrücklich setzen dies fest: Bayr. Verf. Tit. II $ 5, Bad. Haus- 
und Familienstatut $ 3, Braunschw. N. LO. „a4 
8 H. A. Zachariä, St.R. ($ 73) 1 373 f.; Zöpfl, St.R. ($ 253) 1 708; Held, 
Verf.-R. (8 346) 2 263; v. Gerber, Deutsches Privatrecht $ 264; 17. Aufl. von 
Cosack $ 311; Beseler, Deutsches Privatrecht $ 173; H. Schulze, Lehrbuch 
des deutschen Staatsrechts Ö 101) 1 285 N. 1; E. Meier a. a. O. 885; Ulbrich, 
Lehrbuch des österreichischen Staatserechts $ 57; Adam a. a. O. 30; 
R. Friedrich, Die Sukzession der Regredienterbin und der Erbtochter,
	        
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