Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

208 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 89. 
Mißheirat bestand nur in dem Verhältnis von Freien zu Unfreien. 
Als aber seit dem dreizehnten Jahrhundert eine schärfere$onderung 
der Geburtsstände eintrat, gewann die Ebenbürtigkeit auch für die 
verschiedenen Klassen der Freien zueinander Bedeutung. Nament- 
lich bildete sich bei dem hohen Adel Deutschlands, d. h. bei den 
reichsständischen Geschlechtern, ein gemeines Gewohnheitsrecht 
aus, nach welchem jede Ehe mit einer Person, welche nicht einem 
reichsständischen Hause entstammte, als eine Mißheirat angesehen 
wurde. Gegenüber dem strengen Festhalten der Fürstenhäuser an 
diesem Prinzip erwies sich auch die romanistische Doktrin als 
machtlos, welche auf Grund von Bestimmungen des römischen 
Rechtes jede Ehe mit einer freien Person als ebenbürtig angesehen 
wissen wollte1?, Die Anschauungen des hohen Adels über diese 
Frage fanden einen gleichzeitigen Ausdruck in den Hausgesetzen. 
Auch pflegte man seit dem vierzehnten Jahrhundert bei uneben- 
bürtigen Ehen die Wirkungen der Mißheirat durch einen besonderen 
Vertrag festzusetzen, d. h. zu bestimmen, daß Gemahlin und Kinder 
am Stande und Range des Gemahls und Vaters keinen Anteil 
haben, und daß letztere in Landesregierung, Stamm- und Lehn- 
güter nicht sukzedieren sollten. Solche Ehen, welche zuerst beim 
Gründen veröffentlicht gelegentlich des lippeschen Thronstreits (Minden 1905), 
besprochen von Anschütz in der Z.RG. 40 172 fl. Auch in der ersten Hälfte 
des 19. Jahrh. blieb diese Meinung noch im wesentlichen communis opinio 
(näheres bei Göhrum a. a. O. 2 De, 306 ff.; Anschütz, Fall Fries. 64, 65), 
wurde aber dann, insbesondere durch Göhrum, J. C. Kohler, v. Gerber, 
Beseler u. a. (vgl. oben Nr. 1), aus ihrer Herrschaft zugunsten der strengen 
Lehre (oben Nr. 1) mindestens zeitweise verdrängt Doch hat es ihr niemals 
an angesehenen Vertretern (vgl., abgeschen von älteren wie Haeberlin, 
Gönner, Leist, Eichhorn, Danz, Runde, z. B. Zachariä, Rechtsgutachten, die 
Ebenbürtigkeitsfrage im Hause Lippe betr. [1875] 20; Stobbe, D. Priv.-R. 4 44) 
und am Beifall der Gerichtspraxis (vgl. OAppGer. München, Seuff, BI. f. 
Rechtsanw. 11 267; Präjudizien des preuß. OTrib,. 1 137; RGZ. 82 150) ge- 
fehlt; ja es scheint, als werde sie sich die ihr im 19. Jahrh. entrissene Herr- 
echaft wieder erobern. Von großer Bedeutung für sie war es, daß die beiden 
im lippeschen Thronstreit ergangenen Schiedssprüche, vom 22. Juni 1897 
(Druckausgabe Leipzig 1897) und vom 25. Okt. 1905 (GS. f. Lippe 271 ff.), 
sich auf sie stützten. Von zeitgenössischen Schriftstellern bekennen sich zu 
ihr: Kahl, Ebenbürtigkeit und Thronfolgerecht 17 f., 24 ff., 30; Schroeder, 
D. Rechtsgesch. (5. Aufl.) 825; Rehm, Mod. Fürstenr. 160 ff.; Schücking, Art. 
Ebenbürtigkeit a. a. O.1 625; Piloty, Das Recht der Ebenbürtigkeit zwischen 
hohem u. niederem Adel in Deutschland und insbes. in Bayern (als Manuskr. 
gedr., 1910); ebenso ein Gutachten der lieipziger Juristenfakultät in Sachen 
es lippeschen Streites vom 16. Nov. 1898 (als Manuskr. gedr.). 
4. Endlich behauptet Zöpfl, St.R. 1 88 220—226 und Uber Mißbeiraten 
in tegierenden deutschen Fürstenhäusern (1853), dem sich Held, System 2 $ 330 
und Grotefend, St.R. $ 396 angeschlossen haben, daß ein Erfordernis der 
Ebenbürtigkeit für die Ehen von Mitgliedern der Fürstenhäuser nach ge- 
meinem Recht. überhaupt nicht existiere, sondern nur auf Grund besonderer 
Vorschriften der Hausgesetze bestehe. Dieser Ansicht wohl auch Tezner, 
Die Sukzessions- und Verwandtenrechte des Prinzen Alexander v. Oldenburg 
(1905) 30 Anm. 41, 37, 52. 
12 Schücking, Art, Ebenbürtigkeit a. a. O. 624; Gierke, D. Priv.-R. 
1 401, 402. '
	        
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