Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Organe. $ 97. 337 
anzunehmen oder abzulehnen, eine Amendierung der einzelnen 
Positionen ist ihr nicht gestattet®. Die letztere Vorschrift muß 
so verstanden werden, daß das Recht der Annahme oder Ablehnung 
im ganzen sich auf den in der zweiten Kammer festgestellten 
Staatshaushaltsetat bezieht. Denn nur dieser bildet die Grundlage 
der Beratungen der ersten Kammer’. 
Wenn beide Kammern sich über eine Vorlage nicht zu einigen 
vermögen, 80 ist kein Beschluß zustande gekommen. In einzelnen 
Verfassungen bestehen jedoch bestimmte Vorschriften, welche den 
Zweck haben, derartige Differenzen zwischen beiden Kammern 
zum Austrag zu bringen®. 
® [So in Preußen (Art. 62 Abs. 3 V.-Urk.: „Finanzgesetz-Entwürfe und 
Staatshaushalts-Etats werden zuerst der Zweiten Kammer vorgelegt; letztere 
werden von der ersten Kammer im Ganzen angenommen oder abgelehnt“) 
und in Blsaß-Lothringen (Verf.-G. vom 31. Mai 1911, $5 Abs. 3). Das Gleiche 
It früher auch in Württemberg, Baden, Hessen, jedoch mit der Maßgabe, 
aß hier bei unausgleichbarer Meinungsverschiedenheit der beiden Kammern 
Gesamtabstimmung mit Durchzählung der Stimmen, der Sache nach also 
Erledigung der betreffenden Vorlage in einer vereinigten Versammlung beider 
Kammern stattfand. Durch die Wahlreformen des ersten Jahrzehntes des 
20. Jahrhunderts (Baden: 1904, Württemberg: 1906, Hessen: 1911; vgl. unten 
$ 99) hat diese Rechtslage jedoch in allen drei Staaten eine Änderung zu- 
unsten der Ersten Kammern erfahren. Die Ersten Kammern machten ihre 
ustimmung zu der Demokratisierung des Wahlrechts zur Zweiten Kammer 
mit Erfolg von einer Abschwächung der Finanzprivilegien dieser Kammer ab- 
hängig. Sie forderten und erreichten bezüglich der wichtigsten Finanzvorlage, 
des Etats (Budgets, Finanzplans) ein bedingtes Amendierungsrecht, welches 
man, da es dem entsprechenden Recht der Zweiten Kammer dann, wenn diese 
im Einzelfalle auf ihren Willen andauernd besteht, nicht gleichwertig ist, als 
ein suspensives Veto gegenüber den Beschlüssen der Zweiten Kammer über 
die Einzelpositionen des Etats bezeichnen kann. Am wenigsten ist das frühere 
Vorrecht der Zweiten Kammer geschmälert worden in Baden (Verf. 83 60, 61 
in der Fassung vom 24. August 1904), mehr in Württemberg (Verf. $ 181, 
Fassung vom 16. Juli 1906), am meisten in Hessen (Verf. Art. 67, 75, Fassung 
vom 3. Juni 1911). Auf die, das Ergebnis langwieriger Kompromißverhand- 
lungen darstellenden, z, T. sehr verwickelten Einzelheiten kann hier nicht ein- 
egangen werden; am besten orientiert darüber in vergleichender Darstellung 
ehm im WStVR. 27 28 ff., 730 ff. — In Bayern und Sachsen hat die Zweite 
Kammer von jeher nur das formelle Vorrecht besessen, daß gewisse Finanz- 
vorlagen zuerst bei ihr eingebracht werden müssen (vgl. die Allegate oben N. 5). 
Die Ersten Kammern dieser beiden Staaten haben also hinsichtlich aller Finanz- 
gesetze, einschließlich des Etats, das unbeschränkte Recht der Amendierung.] 
' Die Beschlüsse des preußischen Herrenhauses vom 11. Oktober 1862 
und 23. Januar 1864, den im Abgeordnetenhause festgestellten Etat abzu- 
lehnen, dagegen den von der Regierung dem Abgeordnetenhause vorgelegten 
Etat anzunehmen, waren demnach verfassungswidrig. Vgl. v. Rönne, Preuß. 
Staater.($$ 89 u. 116)1 364 u. 596 ff.; H. Schulze. Preußisches Staatsrecht $ 202; 
Schwartz, Preuß. Verfassungsurkunde 204; Arndt, Komm. 262; Rehm im 
WStVR. 730; Fleischmann, Weg der Gesetzgebung in Preußen 110, 
8 Nach den Bestimmungen der Sächs. Verf. 8$ 91, 92, 131 soll bei 
Meinungsdifferenzen zwischen beiden Kammern zunächst der Versuch einer 
Vereinigung durch eine Deputation gemacht werden; bleiben trotzdem die 
Stimmen beider Kammern geteilt, so ist zu der Verwerfung des Gesetzes- 
vorschlages erforderlich, daß in einer der beiden Kammern wenigstens zwei 
Dritteile für die Verwerfung gestimmt haben. Letztere Bestimmung paßt 
jedoch nur auf Gesetzesvorschläge, welche von der Regierung ausgegangen 
G. Meyer-Anschütz, Deutsches Staatsrecht. I. 7. Aufl.
	        
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