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Die zweite Kammer geht ausschließlich oder vorwiegend
aus Wahlen der Bevölkerung hervor. Dasselbe gilt vom Land-
tage überhaupt, wo dieser nur aus einer Kammer besteht. Die
gesetzlichen Vorschriften über die Wahlen sind teils in den Ver-
fassungen, teils in besonderen Wahlgesetzen enthalten '!.
Wählern. Es können aber andere Gründe vorliegen, welche die Niederlegung
der Stellung als unzulässig erscheinen lassen. Namentlich ist eine solche
bei denjenigen Personen ausgeschlossen, welche kraft der Bekleidung eines
bestimmten Amtes der ersten Kammer angehören. Außerdem muß dieselbe:
da für nicht statthaft erachtet werden, wo die Erlöschungsgründe im Gesetz
speziell fixiert sind und der Verzicht nicht erwähnt wird. Dieser Fall liegt
namentlich in Preußen vor. Man kann gegen die Unzulässigkeit des Ver-
zichtes auch nicht das Argument in das Feld führen, derartige Mitglieder
der Ersten Kammer wären dann die einzigen Personen, für welche die Bei-
behaltung einer Organstellung absolute Pflicht sei (Jellinek a. a. O. 175 N. 1).
Ein solcher Zwang zur Örganstellung kommt auch sonst, namentlich bei
nicht berufsmäßigen Beamten (Elemente der Selbstverwaltung), welche ihr
Amt kraft allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten übernommen haben, und
in einzelnen Ländern sogar bei aus Volkswahlen hervorgegangenen Abge-
ordneten vor. Vgl. $ 102 N. 1,9.
ı Preuß. Verordnung über die Ausführung ( er Wahl der Abgeordneten
zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849. Diese V. war ursprünglich nur für
die Wahl derjenigen Abgeordnetenversammlung bestimmt, welche die Revision
der Verf. vornehmen sollte. Die rev. Verf. vom 31. Januar 1850 stellte in
Art. 72 ein Wahlgesetz in Aussicht, bestimmte aber in Art. 115, daß bis zum
Erlaß desselben die V. vom 30. Mai 1849 in Kraft bleiben sollte. Einzelne
Bestimmungen der V. vom 30. Mai 1849, namentlich über das aktive Wahl-
recht, stehen jedoch mit Vorschriften der Verfassung in Widerspruch. [Ein.
Zirkularreskript des Ministers des Innern vom 5. Nov. 1858 (vgl. v. Rönne,.
Preuß. Staatsr. ($ 59) 1 238 N. 2a) hat sich zutreffend dahin ausgesprochen,
daß in dieser Beziehung die Vorschriften der Verordnung und nicht die der
Verfassung anzuwenden seien. Dementsprechend ist in der Praxis verfahren
und derselbe Standpunkt wird von den Schriftstellern über preußisches
Staatsrecht vertreten: v. Rönne ($ 58) 1 224; v. Rönne-Zorn 1 294, 295;
H. Schulze $ 160; v. Stengel in Marquardsens Handb, 77, 78; Arndt, Komm.
272, 273, 381; Schwartz, reuß. Verf.-Urk. 221; Frormann im Arch.OfE.R.
15 236 ff.; Anschütz, Jahrb.Off.R. 1 198, 199. — Die V. vom 30. Mai 1849
hat als nachträglich genehmigte Notverordnung (unten $ 161), an sich nur
die Kraft eines einfachen, nicht die eines Verfassungsgesetzes. Trotzdem
bedarf es, wie dies auch die Staatspraxis annimmt (vgl. G. vom 28. Juni
1906, dazu Anschütz a. a. O. 198) zu ihrer Abänderung eines verfassungs-
ändernden Gesetzes aus folgenden Gründen: Durch Art. 115 der preuß. Verf.
sind die Art. 70, 71, 72, 74 suspendiert; die V. vom 30. Mai 1849 ist ihnen
gegenüber „bis zum Erlasse des im Art. 72 vorgesehenen Wahlgesetzes“ auf-
rechterhalten und zwar in ihrer damaligen, zur Zeit des Inkrafttretens.
der Verf. bestehenden Gestalt, welche eben bis zum Erlaß des verheißenen
Wahlgesetzes nicht abgeändert werden soll. Solche Abänderungen, also-
Wahlgesetznovellen vor Erlaß des künftigen (als Kodifikation der gesamten
Materie gedachten) Wahlgesetzes, sind durch Art. 115 verboten, erlaubt also
nur nach vorheriger oder unter gleichzeitiger Aufhebung dieses Verbotes, —
eine Aufhebung, welche die Anwendung des Verfassungsänderungsverfahrens
fordert, denn das Verbot, Art. 115, besitzt Verfassungsgesetzeskraft. Wollen
solche wahlrechtlichen Novellen von den Grundsätzen der Art. 70—74 ab-
weichen, so bedürfen sie der Form der Verfassungsänderung natürlich auch