Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

372 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 105. 
gestattet. Nur wenige deutsche Verfassungen und Gesetze, nament- 
lich solche aus späterer Zeit, brachten das Prinzip der Redefreiheit 
vollständig zur Geltung!®. Zu ihnen gehörte die preußische 
Verfassung, welche im Artikel 84 bestimmte: Sie (die Mitglieder 
beider Kammern) können für ihre Abstimmungen in der Kammer 
niemals, für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur inner- 
halb der Kammer auf Grund der Geschäftsordnung zur Rechen- 
schaft gezogen werden.“ Ein Beschluß des Obertribunals vom 
29. Januar 1866!1 legte diesen Artikel dahin aus, daß unter 
Meinungen lediglich Resultate des Denkvermögens, dagegen nicht 
Behauptungen und Verbreitungen von Tatsachen zu verstehen 
seien. Die Mitglieder der beiden Häuser des Landtages könnten 
daher wegen der in Ausübung ihrer Funktionen ausgesprochenen 
Verleumdungen gerichtlich verfolgt werden, während bei bloßen 
Beleidigungen ohne verleumderischen Charakter eine solche Ver- 
folgung nicht stattfinde. Diese Interpretation war jedoch weder 
durch den Wortlaut noch durch die Entstehungsgeschichte des 
Art. 84 zu rechtfertigen!®., Der Versuch, die Angelegenheit auf 
dem Wege der preußischen Gesetzgebung durch eine Deklaration 
der Verfassungsurkunde zu erledigen, blieb erfolglos, dagegen 
wurde in das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich als $ 11 
folgende Bestimmung aufgenommen: „Kein Mitglied eines Landtages 
oder einer Kammer eines zum Deutschen Reiche gehörigen Staates 
darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, 
wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines 
Berufes getanen Außerungen zur Verantwortung gezogen werden.* 
Hierdurch sind alle früheren Vorschriften der Landesverfassungen, 
welche die strafrechtliche Verfolgung von Abgeordneten zuließen, 
aufgehoben worden #. Außerdem schließt der Wortlaut des $ 11 
10 Bayr. Verf. Tit. VII $ 27, Württ. Verf. & 135 (G. vom 23. Juni 1874 
Art. 9), Bad. Verf. $ 48a (G. vom 21. Okt. 1867 Art. 2). Braunschw. N. LO, 
8 134 u. GO. vom 19. Mai 1912 8 55 (Verweis auf RStr&GB.S 11, S.-Mein. GG. 
Art. 99, Reußj. L.StGG.$ 94 (G. vom 18. Juni 1868). Uber die Entwicklung der 
deutschen Gesetzgebung vgl. Hubrich, Parlamentarische Redefreiheit 174 ft. 
11 Entscheidungen des preuß. Obertribunals 39 2. 
12 Vgl. v. Rönne, Preuß. Staatsr. (3 72) 1299 #.; Zorn in der 5. Aufl. dess. 
($ 33) 1 3704; H. Schulze, Preuß. Staatsr. $ 161, in Marquardsens Handb. 55; 
H. A. Zachariä, Über Art. 84 der preußischen Verfassungsurkunde, Leipzig 
1866; v. Bar, Die Redefreibeit der Mitglieder gesetzgebender Versammlungen, 
(Leipzig 1868) 23 ff.;, Hubrich a. a. 0. 276 ff. — Zweifelnd Arndt, Komm., zu 
Art. 84 N. 1 und Bornhak, Preuß. StR. 1 425. Einige Verteidiger des Öber- 
tribunalsbeschlusses führen v. Rönne a. a. ©. 304 I. 1 und Zorn a.a. 0). 374 
N, lan. [Zu den Gegnern gehörte, begreiflicherweisc, auch das Haus der 
Abgeordneten, welches den Plenarbeschluß des OTr. am 10. Februar 1366 
für verfassungswidrig erklärte. Indem es Jas tat, wollte es sich nicht die 
Stellung einer Instanz über dem obersten Gerichtshof oder sonst richterliche 
Gewalt anmaßen, sondern seiner Ansicht Ausdruck geben. Dazu war es 
befugt. Inwiefern also der Beschluß des II. d. Abg. vom 10. Febr. 1366 einen 
Verfassungsbruch enthalten soll (Arndt und Bornhak a. a. O.) ist nicht 
ersichtlich.) 
18 Die Bestimmungen des RStGB. werden in einzelnen J,andesgesetzen 
[unnötiger und inkorrekter Weise] ausdrücklich wiederholt. Sächs. LandtO.
	        
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