Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

414 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 110. 
Anders in Frankreich, wo schon unter dem ancien regime die 
Verwaltung der Städte ganz in die Hände von staatlichen Ver- 
waltungsbeamten gekommen war. Die Revolution und die napo- 
leonische Gesetzgebung bauten auf dieser Grundlage fort. In ihrer 
uniformierenden Tendenz schufen sie eine einheitliche Gemeinde- 
verfassung für Stadt und Land, welche die Gemeinde nicht als 
selbständiges Glied des Staatskörpers, sondern als staatlichen Ver- 
waltungsbezirk auf der einen, als privatrechtliches Vermögens- 
subjekt auf der anderen Seite behandelte. Diese Einrichtungen 
blieben auch auf Deutschland nicht ohne Einfluß, und in den 
Rheinbundstasten wurden vielfach Gemeindeverfassungen nach 
französischem Muster eingeführt. 
Um dieselbe Zeit gab Preußen den Anstoß zu einer bedeut- 
samen Reform der Gemeinde-, insbesondere der Stadtverfassungen. 
Die Städteordnung vom 19. November 1808b verfolgte, wie ihre 
der Vernichtung jeder korporativen Selbständigkeit mit der zähesten Kon- 
sequenz, und der vollendetsten Rücksichtslosigkeit bis zum Extrem durch- 
efü . 
6 b Die schon immer sehr beträchtliche Literatur über dieses monumen- 
tale Reformgesetz ist anläßlich seines hundertsten Jahrestages, 19. November 
1908, noch stark vermehrt worden. Nähere Nachweise gibt Thimme in der 
2. Aufl. von E. v. Meiers „Reform“, 471 ff. An erster Stelle ist noch immer 
dieses Buch selbst, 249 ff., zu nennen; daneben stehen als wichtige Ergänzung 
die auf selbständigen Forschungen beruhenden Arbeiten M. Lehmanns: 
Freiherr vom Stein 2 447 ff., Preuß. Jahrbücher 93 471ff. Vgl. ferner Claus- 
witz, Die StO von 1808 und die Stadt Berlin (1908). Zwischen E. v. Meier 
und M. Lehmann hat sich ein lebhafter, oft mit allzugroßem Aufwand 
olemischen Eifers geführter Streit darüber entsponnen, ob die StO durch 
Nie französische Gesetzgebung der Revolutionszeit beeinflußt sei; eine Frage, 
die von Meier glatt verneint, von Lehmann in weitem Umfange bejaht wird. 
Vgl. E. v. Meier, Französische Einflüsse 2 314 ff, Lehmann, Preuß. Jahrb. 
18 217. Die Lehmannsche Ansicht beruht auf einer Überschätzung von 
Einzelheiten. Richtig an ihr ist, daß zwei, allerdings wichtige, Bestimmungen 
der StO, die $$ 110 und 73, wonach die Stadtverordneten Vertreter der ge- 
samten Bürgerschaft und an Instruktionen ihrer Wähler nicht gebunden 
sind, und wonach die Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung nicht „nach 
Ordnungen, Zünften und Korporationen“, sondern in örtlich begrenzten Wahl- 
bezirken stattfinden, sachlich und zum Teil wörtlich mit Vorschriften franzö- 
sischer Gesetze (G. vom 22. Dezember 1789, Art. 34, G. vom 14. Dezember 
1789, Art. 7) übereinstimmen. Im übrigen aber hat die StO mit der franzöd- 
sischen Revolutionsgesetzgebung nichts gemein; sie ist, insbesondere in ihrer 
Grundauffassung über das Verhältnis von Staat und Stadt, eine selbständige 
Fortbildung deutscher, nicht eine Rezeption französischer Rechtsgedanken. 
Andrerseits geht Meier fehl, wenn er in der StO eine Entfaltung von Keimen 
erblicken wi, die schon im altpreußischen Recht vorhanden gewesen seien. 
Das ist ganz verkehrt und eine „einseitig borussische Betrachtungsweise“ 
(v. Gierke im Jahrb. d. Bodenreform 7 179). Kein Bruch kann schroffer sein 
als der, den die StO von 1808 mit allen leitenden Grundsätzen des alt- 
preußischen Städteverfassungsrechts vollzogen hat. In der Literatur hat 
ehmann am ehesten Anklang gefunden bei Preuß, Entwicklung des Städte- 
wesens 1 237ff., sonst ist seine Theorie meist abgelehnt worden; vgl. außer 
v. Gierke a. a. O. Hintze in den Forschungen z. brandenb.-preuß. Gesch, 
21 319 ff., Küntzel im Jahrb. für Gesetzgebung, Verwalt. und Volkswirtschaft 
34 87 ff, Thimme in der 2. Aufl. von E. v. Meiers „Reform“ 473, 474, sowie 
XXVff. (dort auch weitere Literaturangaben.
	        
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