Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

524 Zweiter Teil. Zweites Buch. $ 135. 
setzungen zwischen dem Reichstage und den verbündeten Regierungent, in 
deren Verlaufe zunächst Anträge, welche die Übertragung der gesamten 
vollziehenden Gewalt des Bundes auf das Präsidium und die Einsetzung 
eines verantwortlichen Bundesministeriums bezweckten, abgelehnt wurden, 
schließlich aber (27. März 1867) ein sachlich verwandter Vorschlag des Ab. 
eordneten v. Bennigsen angenommen wurde, dahingehend, dem Art. 18 
Satz 2 des Verfassungsentwurfs (= RV Art, 17 Satz 2) die Fassung zu geben: 
Die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums werden im 
Namen des Bundes erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegen- 
zeichnung des Bundeskanzlerse, welcher dadurch die Ver- 
antwortlichkeit übernimmt,“ Der Antrag Bennigsen fand die Zu- 
stimmung der Regierungen und ging in den Text der Verfassung über. 
Seine Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Präsidialgewalt ist 
bereits in anderem Zusammenhange (oben 496) gewürdigt worden. Der 
Bundeskanzler ist durch die Annahme des Antrags Bennigsen aus dem 
Verhältnis der Abhängigkeit, in dem er nach Absicht des Entwurfs zu dem 
preußischen Minister des Auswärtigen stehen sollte, losgelöst und zum selb- 
ständigen, verantwortlichen Leiter der Bundesregierung, soweit sie dem 
Präsidium zustand, zum Bundesminister erhoben worden. Es wurde, wie 
Bismarck in der oben Anm. c angeführten Reichstagsrede ausführte „durch 
den Art. 17 RV die Bedeutung des Kanzlers plötzlich zu der eines kontra- 
signierenden Ministers und nach der ganzen Stellung nicht mehr eines 
Unterstaatssekretärs für deutsche Angelegenheiten im auswärtigen preußischen 
Ministerium, wie es ursprünglich die Meinung war, sondern zu der eines 
leitenden Reichsministers hinaufgeschoben.“ — Die nächste praktische Folge 
des Antrags Bennigsen war, daß Bismarck, der für den Posten des Bundes- 
kanzlers bis dahin einen seiner Untergebenen in Aussicht genommen hatte, 
nun selbst Bundeskanzler wurde. 
So entstand die ministerielle Seite des Kanzleramtes: der Bundes- 
— seit 1871 Reichs- — kanzler des Art. 17 RV, und damit zugleich die 
Grundlage der Stellung des Reichskanzlers als Leiter der Reichsverwaltung 
(vgl. unten $ 136). Die Eigenschaft des Kanzlers als Vorsitzender des 
Bundesrates, der Kanzler des Art. 15 RV, blieb von der lex Bennigsen un- 
erührt. 
1. Der Reichskanzler im Bundesrat (Art. 15 
RV).— Diese Seite des Kanzleramts ist bereits oben $ 124 S. 487 
besprochen worden. Art. 15 RV sagt ausdrücklich nur, daß der 
Reichskanzler Vorsitzender des Bundesrates sei und dessen 
Geschäfte (mit „Geschäfte“ meint Art. 15 Abs. 1 nicht etwa die 
Reichsgeschäfte überhaupt, sondern die inneren Angelegenheiten 
des Bundesrats) leite. Es ist dabei aber als selbstverständlich 
vorausgesetzt, daß er auch Mitglied des Bundesrates sein muß, 
und zwar stimmführender Bevollmächtigter Preußensi. Über das 
Verhältnis des Reichskanzlers in dieser letzteren Eigenschaft zur 
preußischen Staatsregierung sagt die Verfassung nichts. Nach 
den oben $ 123 dargelegten allgemeinen Grundsätzen ist dies Ver- 
hältnis ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, kraft dessen der 
Bevollmächtigte im Bundesrate, insbesondere bei Abstimmungen, 
h Vgl. Haenel, a. a. O. 16ff.; Preuß, a. a. O. 430 ff.; Grassmann im 
ArchÖfR 11 314 ff.; Rosenthal, a. a. O. Sf. 
i Vgl. oben $ 124 N. 7. Der verfassungsmäßige Vorsitzende des 
Bundesrates und der Vertreter der „Stimme des Präsidiums“, der „Präsidial- 
stimme“ (RV Art. 5 Abs. 2, Art. 6a) sind also eine und dieselbe Person.
	        
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