Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

638 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 155. 
setzung), Rechtspflege (Justiz) und Verwaltung? Im 
konstitutionellen Staate sind für die Ausübung jeder dieser Funk- 
tionen besondere Organe berufen. Die gesetzgeberischen Be- 
fugnisse werden von der Regierung im verfassungsmäßigen Zu- 
sammenwirken mit der Volksvertretung ausgeübt, die Verwaltungs- 
funktionen von der Regierung, den ihr unterstellten Verwaltungs- 
behörden sowie den Kommunalverbänden, die richterlichen Tätig- 
keiten von den Gerichten. Die Verteilung der Befugnisse unter 
die gedachten Organe hat aber tatsächlich nicht in der prinzipiellen 
Weise stattgefunden, wie sie bei der Begründung der konstitutio- 
nellen Verfassungen in Aussicht genommen war. Das Prinzip ist 
aus praktischen Gründen vielfach durchbrochen worden. Die 
gesetzgebenden Organe üben gewisse Funktionen aus, welche sich 
ihrem materiellen Gehalte nach nicht als rechtssetzende, sondern 
als Verwaltungstätigkeiten, die Verwaltungsorgane solche, welche 
sich ihrem matericllen Gehalte nach als gesetzgeberische charak- 
terisieren. Den Gerichten sind gewisse Verwaltungsgeschäfte, den 
Verwaltungsorganen zahlreiche Befugnisse der Rechtsprechung 
übertragen. So haben sich neben den materiellen Begriffen der 
Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege noch formelle Be- 
griffe entwickelt. Bei ihnen kommt es nicht auf den sachlichen 
Inhalt der betreffenden Tätigkeiten, sondern auf die Formen an, 
in denen sie auftreten, insbesondere auf die Organe, von denen 
sie vollzogen werden. Gesetz im formellen Sinne bedeutet 
jede Anordnung, welche von den gesetzgebenden Organen (der 
Legislative) ausgeht, in den Formen der Gesetze zustande kommt 
und in der Gesetzsammlung verkündigt wird®,. Verwaltungs- 
——— 
241 ff.; Zorn in den AnnDR 1885 301 ff., 1889 YAff, RStR 1 401 ff., 481ff.; 
bei v. Roenne-Zorn, Preuß. StR 8 (1915) 2, 20, 21; Haenel, Studien zum 
deutschen Staatsrecht II: Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne; 
Bornhak, Preuß. StR 1 503 ff.; AllgStL 158 fi.; Arndt, Das Verordnungsrecht 
des Deutschen Reichs u, Komm. zur preuß. VU (7. Aufl) 242fi., Das 
selbständige Verordnungsrecht (1902), RStR 156 ff.; vgl. ferner desselben Ver- 
fassere Komm. zur RVerf., Staats- und Verwaltungsrecht in Birkmeyers 
Enzykl. der Rechtswissens«haft (2. Aufl. 1902). Abhandlungen im ArchOffentIR 
15 336 ff., 16 192 ff, 18 156 ff, 2. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft 21 259 ff.; 
VerwArch 13 207 ff.; 17 351ff.; Zolger, Österreichisches Verordnungsrecht 
(Innsbruck 1898); v. Roenne-Zorn, Preuß. StR (5. Aufl.) 8 1 £f.] 
2 Über diese Begriffe vgl. $ 8 S. 27 f. 
® Der Unterschied von Gesetzen im formellen und im materiellen Sinne 
war schon im römischen Recht von Bedeutung. Vgl. A. Pernice, Formelle 
Gesetze im römischen Recht, in den Festgaben für Gneist 99 ff. Über die 
Entwicklung des Gesetzesbegriffes im modernen europäischen Staatsrecht 
vgl. Jellinek, a. a. OÖ. 1ff. [Über den materiellen Gesetzesbegriff im vor- 
konstitutionellen preußischen Staatsrecht vgl. Anschütz, Gegenwärtige 
Theorien 160 ff., namentlich aber Hubrich in den AnnDR 1904 775 f. Der 
Unterschied der beiden Bedeutungen des Wortes Gesetz ist in Deutschland 
seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hervorgehoben worden, 80 
insbesondere von Paul Pfizer (1836, vgl. Jellinek, a. a. O. 113), v. Rotteck, 
Linde u. a. (vgl. F. Rosin, Gesetz und Verordnung nach badischem Staats- 
recht 5 Anm. 5.] Auf die neuere deutsche Staatsrechtswissenschaft sind von
	        
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