Die Funktionen. $ 155. 645
die für Verfassungsänderungen geltenden besonderen Vorschriften
beachten, wobei es dann wieder eine Frage für sich ist, wer die
behauptete Nichtbeachtung nachzuprüfen hat und ob die Nicht-
beachtung Ungültigkeit des betreffenden legislativen Aktes be-
wirkt»,
Die früher vielfach aufgestellten Grundsätze, daß der Gesetz-
geber nicht in „wohlerworbene Rechte“ eingreifen und seinen
Anordnungen keine rückwirkende Kraft beilegen dürfe, sind
keine KRechtsschranken der Legislative, sondern lediglich
Forderungen der Gesetzgebungspolitik, und zwar solche, die
koinenwogs immer und unter allen Umständen berechtigt
sind ©,
2. Die Form des Gesetzes bewirkt den Vorrangp der in
ihr Gewand gekleideten Staatswillensäußerungen vor allen andern;
der Wille der Legislative geht jedem andern innerstaatlichen
Willen, sei es, daß dieser von Privatpersonen oder Staatsorganen,
Einzelnen oder Gesamtheiten ausgeht, unbedingt vor. Insbesondere
gilt dies im Verhältnis des Gesetzes im formellen Sinne zu den
Anordnungen der Verwaltungsorgane (Verordnungen und Ver-
fügungen).
3. Ein formelles Gesetz kann nur von dem, der es erlassen
hat, also der Legislative, durch ein neues formelles Gesetz auf-
gehoben, abgeändert, authentisch ausgelegt und durch Aus-
nahmen (Privilegien, Dispensationen 4 durchbrochen werden. Diese
Eigenschaft des Gesetzes nennt man formelle Gesetzes-
kraftr, |
Das Verhältnis der beiden Begriffe des Gesetzes, des vor-
stehend besprochenen formellen und des oben 639, 640 erörterten
materiellen, zu einander ist nicht das der Identität. Denn es gibt
Rechtsnormen, also Gesetze im materiellen Sinne, welche nicht
zugleich solche im formellen Sinne sind: Rechtsverordnungen s,
rechtssatzmäßige Anordnungen des Herrschers aus der Zeit der
absoluten Monarchie, statutarische Satzungen, Hausgesetze der
regierenden Dynastieent, Gewohnheitsrecht. Das Verhältnis ist
n Vgl. unten 8 173. .
o Vgl. die Voraufl. 555. Über den Begriff des erworbenen Rechts (ius
quaesitum): G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte (1895); Anschütz
im VerwArch 57ff.; Affolter, Das intertemporale Recht (1902) 1 626ff. Der
Satz, wonach Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, hat die Bedeutung
einer Auslegungsregel: es ist im Zweifel nicht anzunehmen, daß der Gesetz-
eber seinen Vorschriften habe rückwirkende Kraft beilegen wollen (vgl. die
oraufl. a.a.0. und Goeppert in Jherings Jahrb. f. Dogmatik 82 1ff.., Die
Rück wirkung tritt demnach nur ein, wenn sie vom Gesetzgeber nachweislich
ewollt ist.
8 p O. Mayer, VR166fl.; Anschütz Enzykl. 153; Fleiner, Institut 68, 69,
a4 Oben 641, unten 8 178.
r Laband, StR 2 ff.; Jellinek, Ges. und Verord. 249 ff.
8 Mr unten $ 159.
t Oben $ 86.