Die Funktionen. $ 157. 657
nicht zerlegen in einen der konstitutionellen Legislative und einen
der Regierung (dem Monarchen) allein gehörigen Teil, sondern sie
will, ebenso wie die oben besprochenen Verfassungen von Preußen,
Sachsen, Württemberg, Hessen, das Ganze der materiellen
Gesetzgebung der Legislative überweisen. Die Formel schränkt
den materiellen Gesetzesbegriff nicht ein, sondern sie definiert
ihn, und zwar, wie bei näherer Betrachtung zuzugestehen ist, in
richtiger und erschöpfender Weise. Denn es ist die Eigenschaft
jedes Gesetzes im materiellen Sinne, jeder Rechtsnorm, daß
sie der Freiheit der Willensbestimmung im allgemeinen und der
Eigentumsfreiheit im besonderen Maß und Schranken setzt (s. oben):
jede Rechtsnorm betrifft die Freiheit der Personen oder das Eigen-
tum. Die Formel trennt, noch anders ausgedrückt, nicht gewisse
Rechtsnormen von gewissen andern Rechtsnormen, sondern sie trennt
alle Normen, die Rechtsnormen sind, von den Normen, die es
nicht sind, — nämlich von denen, die nicht in Freiheit und
Eigentum (den „Rechtsstand“) der Individuen eingreifen, den „Ver-
waltungsvorschriften“ i. w. S. (s. oben).
m ne nr
e Die im Text vertretene Auffassung der Freiheit- und Eigentumformel,
mit der G. Meyer in den Vorauflagen dieses Buches, ferner Seydel, Bayr.
StR (2. Aufl.) 2 322 ff.; Seydel-Piloty 1 844 ff; Anschütz, Gegenw. Theor.
167 £.; Enzykl. 154, im WStVR 2 214; van Calker, Hess. StR 153, KritVJSch
10120; Aull, Das landesherrliche Verordnungsrecht im Großherzogtum Hessen
59; Smend, a. a. O. 38; Rosin, PolVR 34 Anm. 2; Walz, Bad. StR 209 und
andere (Angaben bei F. Rosin, Gesetz und Verordnung 7 N. 1) überein-
stimmen, ist nicht unbestritten. Gegen sie haben sich erklärt u. a. Haenel,
Studien 2 286, 288 ff.; Gierke, DPrivR 1 130; Preuss in AnnDR 1903 524
525; Hubrich, VerwArch 17 48 ff.; Thoma in der Ztschr. für bad. Verw. 1408
83 ff., 86, Der Polizeibefebl im bad. Recht 1 101,117 ff. (zweifelnd und nicht frei
von Widersprücben, vgl. 120 mit 101), Der Vorbehalt des Gesetzes (Festgabe für
Otto Mayer, 1916) 175 ff.; F. Rosin, a. 2.0. 62 ff, (dazu wiederum Thoma im
ArchÖtfR 28 573 ff); weitere Zitate bei F. Rosin, a. a. O. 10, 11 Anm. 1.
Nach der Meinung dieser Schriftsteller decken sich die Begriffe „Rechtsnorm“
und „Norm, welche Freiheit und Eigentum betrifft“, nicht, sondern der
erste ist weiter als der andere. Danach wird der Begriff des Gesetzes im
materiellen Sinne durch die Freiheit- und Eigentum ormel nicht definiert
oder umschrieben, sondern zerlegt. Es gibt Gesetze im materiellen Sinne,
Rechtsnormen, welche von der Formel nicht umfaßt werden; sie bedürfen
der Gesetzesform nicht, können im Verordnungswege erlassen werden.
Danach wäre in den Staaten, deren Verfassungen die Formel rezipiert bzw.
beibehalten haben, namentlich in Bayern und NRaden, der Vorbehalt der
Legislative enger begrenzt als in Preußen, Sachsen, Württemberg usw,,
wo die Yerfassungen den legislativen Weg für „jedes Gesetz“ fordern (oben
nm. a).
Zuzugeben ist, daß die in Rede stehende Formel den Begriff des Ge-
setzes im materiellen Sinne nur dann vollständig erfaßt und erschöpfend be-
stimmt, wenn man sie weit auslegt, und richtig ist ferner, daß die Regie-
rungen der in Betracht kommenden Staaten, (Preußen gehört hierher nur für
die Zeit der Herrschaft des Provinzialständegesetzes vom 5. Juni 1823, also
1823—1848) in früheren Zeiten einer solchen Auslegung meist nicht ge-
neigt waren und, gestützt auf eine restriktive Interpretation der Ausdrücke
„Freiheit und Eigentum“, vielfach Rechtsänderungen, welche ohne Gesetz
nicht hätten vorgenommen werden dürfen, im Verordnungswege bewirkten