Die Funktionen. $ 168, 683
[2. Der Grundsatz, daß zu einem Reichsgesetze die Über-
einstimmung der einfachen Mehrheiten des Bundesrates und
des Reichstages genüge, gilt für den Reichstag unbedingt. Auch
die Sanktionsbeschlüsse des Bundesrates werden, nach der all-
gemeinen Regel des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 RV (oben 490) mit ein-
facher Majorität gefaßt. Das Erfordernis qualifizierter Mehrheit
bei Verfassungsänderungen ist dem Reichsstaatsrecht unbekannt.
Dagegen steht in gewissen Fällen der Minderheit des Bundes-
rates gegen die von der Mehrheit beabsichtigte Sanktionierung
von Gesetzentwürfen ein Widerspruchsrecht (Veto) zu. Diese
Fälle sind: ,
a) Anderungen der Reichsverfassung „gelten
als abgelehnt, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich
haben“ ®,
b) „Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch
welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Ver-
hältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zu-
stimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.*?
c) Gesetzentwürfe, welche das bestehende Recht auf dem Ge-
biete des Militärwesens, der Kriegsmarine, der Zölle und der im
Art. 35 RV bezeichneten Abgaben (Verbrauchssteuern) abändern,
können gegen den Widerspruch Preußens im Bundesrat nicht
sanktioniert werden. Dies folgt aus RV Art. 5 Abs, 28.]
d) Gewisse Bestimmungen des Branntweinsteuer-
gesetzes können gegenüber den nach dem Erlaß desselben in
die Branntweinsteuergemeinschaft eingetretenen Staaten (Bayern,
Württemberg, Baden) nur mit deren Zustimmung abgeändert
werden®,
Die Frage, ob einer der angegebenen vier Fälle vorliegt, ist
als eine Frage geschäftlicher Behandlung vom Bundesrate mit ein-
facher Majorität zu entscheiden !”.
jedes ihm nicht genehmen Gesetzes durch Verweigerung der Publikation zu
verhindern. Auch Fricker in der N, 2 zitierten Schrift erklärt die Ver-
flichtung des Kaisers zur Publikation für zweifelhaft. Vgl. gegen seine
edenken G. Meyers Schrift über den Anteil der Reichsorgane Ay Bornhak,
a. a. O. 467 behandelt die Frage gleichfalls als eine offene.
6 RVerf Art. 78 Abs. 1. Vgl. $ 164, sowie oben $ 124 491.
? Vgl. hierüber unten $ 164 S. 698.
8 [Durch Art.5 Abs. 2 ist nicht dem Kaiser als solchem, sondern dem
preußischen Staate ein Veto gegen die Abänderung des bestehenden Zu-
standes eingeräumt. Die Handhabung dieses Vetorechts fällt daher auch an
sich nicht in den Verantwortlichkeitsbereich des Reichskanzlers, sondern in
den der preußischen Staatsregierung. Vgl. oben $ 123 N. 9, $ 124 S. 491
8135 5.524 ff.; v. Seydel, Komm. z. Art.5 Nr. II; Anschütz, Enzykl. 100,110, 115.)
® RG, betr. die Besteuerung des Branntweins, vom 15. Juli1909 8$ 26,
154. Die Aufhebung dieser | aragraphen kann, wenn dieselben auch kein
verfassungsmäßiges Sonderrecht im Sinne des Art. 78 Abs. 2 der RVerf be-
gründen, doch nur mit Zustimmung der betreffenden Staaten erfolgen, weil
sonst das denselben eingeräumte Recht völlig illusorisch sein würde. Vgl.
darüber auch Seydel, Komm. z. Art. 35 Nr. III
10 Übereinstimmend: Westerkamp 130 u.131; Proebst, Reichsvorfassung, zu