Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

690 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 164. 
welche Verfassungsbestimmungen nicht ausdrücklich, aber still- 
schweigend aufgehoben, modifiziert oder für den betreffenden Fall 
außer Anwendung gesetzt haben: Gesetze, welche das Verfassungs- 
recht, nicht aber den Verfassungstext ändern. Angesichts der 
stetigen Praxis, welche diesem Verfahren zur Seite steht, muß 
dasselbe als durch Gewohnheitsrecht anerkannt betrachtet werden®. 
[Dies gilt auch für solche einfache Gesetze, welche die Zuständig- 
keit des Reiches (oben $ 80) überschreiten, indem sie Angelegen- 
heiten regeln, welche der Gesetzgebungshoheit des Reiches nicht 
unterliegenb, Auch in diesem Falle ist nur erforderlich, daß das 
Gesetz im Bundesrate nicht gegen 14 Stimmen beschlossen, nicht 
aber, daß es äußerlich (in seiner Überschrift oder den einzelnen 
Bestimmungen) ausdrücklich als verfassungsänderndes «Gesetz ge- 
kennzeichnet wird. Geschieht letzteres, so wird dadurch das 
Gesetz zum Bestandteil des Verfassungstextes, will man es ab- 
ändern, so findet Art. 78 Abs. 1 RV Anwendung®. Geschieht es 
nicht, so hat das Gesetz lediglich die Kraft und Bedeutung eines 
einfachen Gesetzes, welches im gewöhnlichen Wege der Reichs- 
gesetzgebung abgeändert werden kann, und zwar auch dann, wenn 
durch die Abänderung noch weitergehende Wandlungen des ur- 
sprünglichen Verfassungsrechts bewirkt werden4.] 
[Die dem Reiche zustehende verfassungsändernde Gewalt ist 
rechtlich unbeschränkt, die Reichsgewalt ist auch, und namentlich, 
in dieser Hinsicht eine souveräne® Gewalt. Darin liegt: 
1. Das Reich ist zur Abänderung seiner Verfassung nicht 
sowohl zuständig als ausschließlich zuständig. Niemand außer 
den in Gemäßheit der Reichsverfassung — Art. 5, 71, 17,2, 78 — 
zusammenwirkenden Gesetzgebungsorganen des Reiches kann die 
® So die herrschende Meinung. vel Laband, a. a. 0. 39. und JahrbÖFR 
1 27; Haenel, a. u. O. 1 258; Seydel, 418; Zorn 432; R.Schmidt, Ztschr. für 
Politik 2 203, 204 Anm.; Bähr, Die Reichstagskompetenz, Preuß. Jahrb,. 38 
72#.; Arndt, Dambitsch, a.a.0O.; Triepel, Unitarismus und Föderalismus 37 
und in der Festgabe (1908) für Laband 2 278. — A.M. v. Roenne, StRDR 
2 1, 31 f.; Zachariae, Zur Frage der Reichskompetenz gegenüber dem Un- 
fehlbarkeitsdogma (1871), 46. 
b Beispiele: G. betr. das Oberhandelsgericht vom 12. Juni 1869; Jesu- 
ibenpesctz vom 4. Juli 1872, $ 1; G., betr. Einführung einer einheitlichen 
Zeitbestimmung vom 12. März 1893. 
oc So auch Thudichum, VerfR 8. 
d Laband, a. a. O. 41, 42. A.M. Haenel, a. a. O. 1 255 Anm. 6. 
Seydel, a. a. O. 419 will unterscheiden: „Soll durch das beabsichtigte neue 
Gesetz der Umfang der Zuständigkeitserweiterung noch mehr ausgedehnt 
werden, so bedarf es abermals der Form der Verfassungsänderung: wenn 
nicht, dann nicht.“ Danach hätten z. B. die Bestimmungen des GYG über 
das Reichsgericht als verfassungändernde Gesetze erlassen werden müssen, 
denn sie dehnen die dem Reiche zustehende eigene und unmittelbare Ge- 
richtsbarkeit noch weiter aus als dies durch das G. über das Oberhandels- 
gericht vom 12. Juni 1869 geschehen war. Vgl. Haenel, StR 1 743. 
e Oben $ 14 S. 50ff. Anm. g,n; $ 718. Anm. 6.
	        
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