Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

694 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 164. 
Ob die Reichsverfassung nach einer der vorstehend bezeich- 
neten oder einer anderen Richtung hin abzuändern ist und inwie- 
weit, ist niemals eine Rechtsfrage, sondern eine Frage der recht- 
lich unbeschränkten Gesetzgebungspolitik des Reiches. Ein Veto 
gegen die Betätigung der Kompetenz-Kompetenz des Reiches steht 
den Einzelstaaten als solchen in keinem Falle zu; es läßt sich 
weder aus der Verfassung, noch aus der rechtlichen Natur des 
Reiches, noch aus „vertragsmäßigen Grundlagen“ des 
Reiches herleiten. „Vertragsmäßige Grundlagen“ besitzt das Reich 
nur im Sinne der Geschichte, nicht im Rechtssinne, Das heißt»: 
das Deutsche Reich oder vielmehr der Norddeutsche Bund, dessen 
Erweiterung es lediglich darstellt, ist durch eine vertragsförmige 
Einstimmigkeitserklärung seiner Glieder, der deutschen Einzel- 
staaten, geschaffen worden, es beruht insoweit, historisch, auf 
„Vertrag“ — richtiger: auf Vereinbarung oder Gesamtakto —, es 
ist aber nicht selbst ein Vertragsverhältnis, noch hat seine Ver- 
fassung die rechtliche Natur eines Vertrages. Das Reich ist kein 
Vertrag, auch nicht Vertrag und Staat zugleich, sondern nur Staat, 
und zwar ein souveräner Staat, seine Verfassung gleichfalls kein 
Vertrag, noch auch Vertrag und Gesetz zugleich, sondern nur 
Gesetz, und zwar Gesetz des Staates, dem sie dient: Reichsgesetz, 
nur Reichsgesetz. „Die vertragsmäßigen Grundlagen des Nord- 
deutschen Bundes erloschen, indem der Bund ins Leben trat; 
dieser Bund, der nicht sowohl ein Bund als ein Staat war, ver- 
zehrte das Vertragsband, welches ihn vorbereitet und ledig- 
lich zu dem Zwecke dieser Vorbereitung sich um die Einzelstaaten 
geschlungen hatte“p* Es entstand damals ein neuer Staat, ein 
souveräner Staat, der Herr seiner selbst und seiner Verfassung 
war, nicht beschränkt durch fortdauernde Verträge seiner Gründer. 
Das Gleiche gilt wie vom Norddeutschen Bund, so vom Deutschen 
Reich. Denn das Reich ist ja im Verhältnis zum Norddeutschen 
Bunde keine neue und andere, sondern dieselbe Staatsindividuali- 
tätq, es ist lediglich der vergrößerte Norddeutsche Bund, nicht 
sein Rechtsnachfolger, sondern (als Subjekt) mit ihm identisch. 
Auch das Reich ist nicht Staat und Vertrag zugleich, sondern nur 
Staat, seine Verfassung nicht Gesetz und Vertrag zugleich, sondern 
nur Gesetz. Daß sich die Gegenmeinung, wonach die Reichs- 
verfassung „in der Form eines Vertrages auftrete“, auch nicht mit 
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132) die Bundesnatur des Reiches und damit die Fortexistenz der Einzel- 
staaten, zu den „fundamentalsten Grundlagen der Reichsverfassung gehöre, 
deren Anderung auf dem durch Art. 78 RV bezeichneten Wege nicht mög- 
ich sei. 
n Vgl. zum Folgenden oben 194 fl. 
° Oben 194—196, 200, 201; dazu noch Rehm, Staatslehre 93, 94. 
? Oben 195. Gleichartig in der Grundanschauung: Haenel, StR 34 
49#.; Rehm, a.a. 0. 93, 94, 129, 136, 179 Anm, 4; Triepel, Unitarismus und 
Föderalismus 24 ff. 
4 Oben 207; Haenel, StR 51.
	        
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