Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

Die Funktionen. $ 164. 699 
lagen der Reichaverfassung“, eine rechtliche Beschränkung der verfassung- 
ändernden Gewalt des Reiches erblicken. Wäre dıese Behauptung richtig, 
so ließe sich die gerade von G. Meyer (oben $ 14 Anm. g, $ 71 S. 195) 
immer mit besonderer Energie vertretene Auffassung des Reiches als eines 
souveränen Staates nicht aufrechterhalten; Art. 78 Abs. 2 wäre eine 
Klippe, an der die Lehre vou der Souveränetät des Reiches scheitert es 
von seinem bekannten Standpunkte aus folgerichtig und begreiflich, Seydel 
Komm. z. RV 419). Die Behauptung ist aber nicht richtig. Art. 78 Abs, 3 be- 
schränkt nicht die Reichs ewalt durch eine andere, ihr gleichgeordnete Gewalt 
(die des privilegierten Einzelstaates), sondern grenzt die Kompetenzen der 
bei der verfassungändernden Gewalt des Reiches beteiligten Organe gegen- 
einander ab: die hier privilegierten Einzelstaaten erscheinen als außer- 
ordentliche Organe jener Gewalt. Art. 78 Abs. 2 „enthält einen Rechtssatz 
über die Ausübung der souveränen Reichsgewalt“ (Loening, Grundzüge der 
Verf. d. deutsch. Reichs, 46). Er bedeutet keine dem Reich als solchem von 
außen- und obenher auferlegte Rechtsschranke, sondern lediglich eine 
Hemmungsvorrichtung inn erhalb des Reichsorganismus, welche, wie andere 
leichartige Vorrichtungen Änderungen der Verfassung erschweren und 
echte von Minderheiten schützen will. Das Wesen dieser Hemmungsvor- 
richtung besteht darin, daß einzelnen Mitgliedern einer souveränen Gesamt- 
heit für gewisse Fälle das Recht beigelegt ist, Mehrheitsbeschlüsse der Ge- 
samtheit durch ihren Widerspruch zu Falle zu bringen. Was Art. 78 Abs. 2 
enthält und gewährt, ist m. a. W. ein gesetzgeberisches Vetorecht, sonst 
nichts, — ein Veto, nur dem Grade nach, nicht im Wesen verschieden von 
dem Vierzehnstimmenveto des Art. 78 Abs. 1 (oben 689) und ganz gleichartig 
mit dem Veto Preußens gemäß Art. 5 Abs.2 RV (oben 491). Stünde Art. 73 
Abs. 2 mit der Souveränetät des Reiches im Widerspruch, so müßte das 
gleiche für jeden souveränen Staat gelten, dessen Verfassung irgendeiner 
inorität ein Veto gegen Eingriffe der Gesetzgebung in ihre Rechte verleiht. 
Durchaus zutreffend bemerkt Loening, a. a. 0. 46: „Auch im souveränen 
Einheitsstaate würde es nicht in Widerspruch mit dem Begriffe der souveränen 
Staatsgewalt stehen, wenn die Verfassung bestimmte, daß Rechtssätze, durch 
welche einzelnen Personen Privilegien verliehen werden, nur mit deren 
Zustimmung abgeändert werden können.“ Wer behauptet, daß Art. 78 Abs. 2 
die Douver netät des Reiches negiere, behauptet und beweist zuviel, mithin 
nichts, — 
Die Frage, auf welche Vorschriften Art. 78 Abs. 2 sich be- 
zieht, was insbesondere unter „bestimmten Rechten einzelner Bundes- 
staaten in dem Verhältnis zur Gesamtheit zu verstehen ist, ist be- 
stritten * 5.) 
* Gute Literaturübersicht bei Nirrnheim, die Begriffe des Reservat- 
rechts im Sinne der Verfassung des Deutschen Reiches, ArchÜffR 25 596 ff. 
5 Während die meisten Schriftsteller bei der Interpretation dieser Be- 
stimmung sich streng an den Wortlaut des Art. 78 halten und dieselbe, dem 
Wortlaut entsprechend, ausschließlich auf Vorschriften der Reichsverfassung 
beschränken, ist zuerst von dem sächsischen Minister, Freiherrn v. Friesen, 
in der Sitzung der Zweiten sächsischen Kammer vom 23. Febr. 1872 (AnnDR 
1872 1616 ff.) behauptet worden, daß sie sich auf alle diejenigen Rechte be- 
ziehe, welche den Charakter von „iura eingulorum besäßen; Art. 78 Abs. 2 
enthalte eine Selbstverständlichkeit, die in der RV auszusprechen, eigentlich 
unnötig sei. Ihm hat sich Seydel, Kommentar zu Art. 78 Nr. V, 8.421 ff. 
angeschlossen. In eingehender Weise versucht Laband (Der Begriff der 
Sonderrechte nach deutschem Reichsrecht, AnnDR 1874 1487 f£., StR 1 117 ff, 
kl. A. 32 ff.) die Ansicht zu begründen, Art. 78 Abs. 2 enthalte keine singuläre 
Vorschrift über Abänderung der Reichsverfassung, sondern die Anwendung 
des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, daß iura singularia ohne Zustimmung
	        
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