Die Funktionen. $ 175. 749
Die Begnadigung ist ein Verwaltungsakt, durch welchen
entweder die Fortsetzung eines Strafverfahrens verboten oder die
Folgen eines strafrechtlichen Urteils aufgehoben, insbesondere die
Strafvollstreckung untersagt wird. Sie enthält keinen Verzicht
des Staates auf subjektive Rechte!?, sondern die Ausübung
eines Hoheitsrechtes?®?, Ihrem Inhalt nach charakterisiert
sie sich als ein Befehl an die Staatsbehörden, gewisse Handlungen
zu unterlassen; daneben kann sie auch noch die Beseitigung von
Rechtsnachteilen, welche einen Verurteilten betruffen haben, z. B.
eine Wiederherstellung seiner bürgerlichen Ehre, zum Gegenstande
haben. Ihre Wirkung erstreckt sich auf Haupt- und Nebenstrafen ;
ihr Umfang kann von dem Begnadigenden im einzelnen Falle fest-
gestellt werden. Die privatrechtlichen Folgen eines Verbrechens
werden von der Begnadigung nicht betroffen. Ein Verzicht auf
die Begnadigung ist nicht zulässig, weil das Institut nicht im
individuellen Interesse des einzelnen Verbrechers, sondern im
öffentlichen Interesse besteht.
2. Ein Analogon des Begnadigungsrechtes auf dem Gebiete
des Zivilrechtes war das Recht der Erteilung von Mora-
ebenso Ortloff a. a. O. 227; v. Kries im ArchÖffR 5.366 N. 13, Lehrbuch
des deutschen Strafprozeßrechtes 105 ff., bei den durch Reichsgesetz mit
Strafe bedrohten Handlungen für ausgeschlossen, Elsaß a. a. O. 79 ff. nach
dem Gerichtsbeschluß über Eröffnung des Hauptverfahrens für unzulässig.
Noch andere Schriftsteller, die sich gegen dıe Fortdauer des Abolitions-
rechts aussprechen (John, Bennecke-Beling, Stenglein) s. bei Binding, Grund-
riß 314, Fleischmann a. a. O. 52. Alle diese Ansichten sind unzutreffend.
[Weder das RStGB noch das RGVG oder die RStPrO haben die Absicht
ehabt, in das landesherrliche Begnadigungsrecht, von dem das Recht der
Abolition einen integrierenden Bestandteil bildet, einzugreifen. Begnadigung
und Abolition sind nicht Institute des Strafrechts oder Prozeßrechts, daher
auch nicht Materien des Str@B, des G@VG oder der StrPO. Übereinstimmend:
Laband 8 510 ff.; Binding, Handb,. d. Strafr. 1 871 ff. und Grundriß 313, 314;
Heimberger a. a. O. 21ff.; Locb a. a. O. 23; H. Seufiert a. a. O. 149;
Fleischmann a. a. O. 52; Arndt, Komm, z. preuß. Verf. 200, 201; v. Liszt,
Lehrbuch des deutschen Strafrechts $ 75 N. 4. Eıne Aholition durch einen
Landesherrn ist jedoch nur möglich, so lange die betreffende Strafsache bei
den Landesgerichten, dagegen nicht, wenn sie beim Reichsgericht anhängi
ist. Denn gegenüber diesem steht den einzelnen Laudesberrn keinerlei
Befehlsgewalt zu. So: RGStrafs. 28 419 ff.; Laband, StR. 8 518 und DJZ 1W1
256 ff.; v. Lirzt, Lehrb. des Strafrechts $ 75 N, 4. Anders: RGStrafs. 88
204 fi.; Binding, Grundriß 318. Gegen die letzterwähute Entsch. des RG
Laband a. a. O 518 N. 4, wogegen Heimberger a. a. O. 114ff., 128 ff. die
Entscheidung verteidigt] —
17 So wird sie vielfach aufgefaßt, z. B. von Binding, Handbuch des
Strafrechts 1 863, 873 und Grundriß 312 ff.; Merkel, Lehrbuch des deutschen
Srafrechts 247; Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte 333;
Elsaß a. a. O0. 39 ff. — [Vell dagegen im Sinne des Textes Laband a, a. O,
504 fi.;, Fleischmann, WStVYR 1 51. Das Reichsgericht, welches sich betrefis
der Frage der rechtlichen Natur der Begnadigung zunächst im wesentlichen
an Laband angeschlossen hatte — RGsSitrafs. v8 419 ff. —, folgt neuerdings
— Strafs. 88 204 ff. — der Bindingschen Auffassung der Begnadigung als
Rechtsverzicht. Vgl. Binding, Grundriß 318).
18 Über ministerielle Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei Be-
gnadigungsakten vgl. oben $ 84 S. 278, Anm, 24.