Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts.

764 Zweiter Teil. Drittes Buch. $ 179. 
Regel, daß Ausnahmen von einem Grundsatz nur der vorschreiben 
oder zulassen kann, welcher zuständig ist, den Grundsatz als solchen 
zu ändern. So kann Dispensation von den Vorschriften einer 
Polizeiverordnung, zum Beispiel eine Baupolizeiordnung, nur die- 
jenige Instanz erteilen, welche die Polizeiverordnung erlassen hat, 
— es sei denn, daß das Gesetz ein anderes bestimmt]. 
8 179. 
[Die Verwaltungsorgane sind nicht, wie die Gerichte, lediglich 
dem Gesetz, sondern auch der Dienstgewalt der ihnen vorgesetzten 
Organe unterworfen. Daraus folgt, daß die oben $ 173, S. 736 ff. 
Verordnungsrecht des Deutschen Reiches 231; Komm. z. Preuß. Verf. 256, 
257; v. Seydel-Piloty, Grassmann, Bayer. Staatsr. 1 844, ?2 107; Hinschius- 
Kahl im WStVR 1 569; Bornhak, Preuß. StR 1 560, 561; Jo@l in den 
AnnDR 18 817; v. Roenne, Preußisches Staatsrecht 4. Aufl. 1 $ 101 5. 458; 
v. Roenne-Zorn, Preuß."StR 8 7; Cosack in Marquardsens Handb. 56; Gaupp- 
Göz a. a. O. 186, 187; Schwartz, Preuß. Verfassungsurkunde 323 ff.; Steinitz 
a. a. O. 73., 82ff. Nur v. Kirchenheim, Lehrb. des deutschen Staats- 
rechts S. 116 vertritt noch die alte Ansicht von der unumschränkten Dispen- 
sationsgewalt des Monarchen. Dagegen hat Laband, Das Gnadenrecht in 
Finanzsachen nach preußischem Recht, im Archiv für öffentliches Recht 
« 169 ff, für den Monarchen das Recht in Anspruch genommen, im Wege 
der Gnade bestehende Gesctze außer Anwendung zu lassen. Der Gnaden- 
akt soll sich von der Dispensation dadurch unterscheiden, daß er kein das 
objektive Recht ändernder Akt, kein Gesetzgebuugsakt ist (a. a. O. S. 192, 
193 . Was Laband Gnade nennt, ist in Wahrheit nichts anderes als Dispen- 
sation, seine Gnadentheorie lediglich eine Wiederaufnahme der alten Lehre 
von der unbeschränkten Dispensationsgewalt des Monarchen. Das Institut 
der Begnadigung, welches seine anerkamnte Stellung in der Strafrechtspflege 
— und nur dort — hat (vgl. oben $ 175), kann nicht beliebig auf andere 
Gebiete des Staatslebens übertragen werden. Nach Labands Anschauung 
ist die Gnade „gesetzesfreies Gebiet“; der Monarch kann „in einer ihm vor- 
behaltenen Sphäre staatlichen Wollens, bis zu welcher die Funktionen der 
Gesetzgebung nicht heranreichen, innerhalb der aus dem Begriff der Gnade 
sich ergebenden Schranken der Gunsterweisung ohne Verletzung der Rechte 
Dritter die suprema potestas des Staates ausüben“ (a. a. O. 195). Auf Grund 
dieser Behauptungen läßt sich fast jede Durchbrechung der Verwaltungs- 
gesetze durch einen Akt des Monarchen rechtfertigen; wo sie zur Än- 
erkennung gelangten, würde nicht mehr das Gesetz, sondern die Willkür 
berrschen. Übereinstimmend mit Vorstehendem Bornhak, Preuß. StR 1 561 
und Steinitz a. a, O. S. 33ff., welcher letztere auch die Gegenansichten 
(Laband, Jo@l, Arndt, Curtius) eingehend erörtert und widerlegt ie Steinitz 
auch Bellardi, Die staatsrechtliche Entlastung (1910), 58 ff. Die Spezialfrage 
der königlichen Steuererlasse in Preußen, welche den Anlaß zu diesen Er- 
örterungen gegeben hatte, ist übrigens außer Streit gestellt, indem das 
— weder aus dem Begnadigungsrecht noch aus allgemeinen staatsrechtlichen 
Grundsätzen ableitbare -- Recht der preußischen Krone zum Verzicht auf 
Steuerforderungen durch das G. betr. den Staatshaushalt vom 11. Mai 1898, 
$ 18 ausdrücklich zugestanden wurde, (Ähnliche Ermächtigungen kennt die 
sächsische und badische Gesetzgebung, vgl. unten 8 206 N.2) Gegen Laband 
vom Standpunkt des bayerischen Rechts aus: v. Seydel-Grassmann, Bayer. 
StR 2 107. Die in Rede stehenden Ausführungen Labands beziehen sich 
übrigens nur auf das preußische Recht. Die Anwendbarkeit derselben 
auf das Reichsrecht lehnt Laband selbst (StR 4 571) ausdrücklich ab: für 
dieses Recht entwickelt er eine Auffassung, die sich mit der vorstehend 
und oben im Text vertretenen völlig deckt.
	        
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