Die Funktionen. $ 204a. 887
urkunde, und zwar in folgender Fassung: „Alle Einnahmen und
Ausgaben des Staates müssen für jedes Jahr im voraus veran-
schlagt und auf den Staatshaushaltsetat gebracht werden. Letzterer
wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.“ Dagegen findet sich
Art. 111 der constitution belge in der preußischen Verfassung
nicht wieder. Vielmehr bestimmt letztere ın ihrem Art. 109: „Die
bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, und alle
Bestimmungen der bestehenden ... Gesetze... bleiben in Kraft,
bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden 9,“ Damit wollte
gesagt sein: die rechtliche Grundlage der Steuerhebung ist nicht
das jährlich ergehende Etatsgesetz, sondern das Dauergesetz,
welches die betreffende Steuer einführt und regelt; das Hecht und
die Pflicht der Regierung, die Steuergesetze ebenso wie alle andern
Gesetze zu vollziehen, ist nicht bedingt durch das Zustandekommen
des Etatsgesetzes, noch sonst durch eine periodisch nachzusuchende
besondere Bewilligung des Landtags; die Steuergesetze sind nicht,
wie in Belgien, leges annuae, Jahresvollmachten, sondern sie gelten
so lange, „bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden“,
wozu aber selbstverständlich ein einseitiger Beschluß des Landtags
nicht ausreichend, sondern das legislative Zusammenwirken von
Regierung und Landtag erforderlich ist. Kurzum: die Verheißung
der V. vom 6. April 1848, wonach den künftigen Vertretern des
Volkes das Steuerbewilligungsrecht — im herkömmlichen Sinne 2° —
zustehen solle, ist unerfüllt geblieben; die preußische Verfassung
kennt das Steuerbewilligungsrecht nicht?!. Da ferner
dem Landtag auch, unbestrittenermaßen, das Recht, der Regierung
die Vereinnahmung der Erträgnisse des Staatsvermögens zu ver-
bieten, nicht zusteht, so fehlt es in Preußen insoweit?? überhaupt
19 Ursprünglich hatte der Art. 109 nicht die Verneinung des Steuer-
bewilligungsrechts bedeuten sollen. \Wie die Entstehungsgeschichte ergibt,
sollten sich die Worte: „die bestehenden Steuern werden forterhoben“ nur
auf die zur Zeit des Erlasses der Verf.-Urk. bestehenden Steuern beziehen;
sie hatten demnach die Bedeutung einer Übergangsvorschrift. Die oktroy-
ierte Verf. vom 5. Dez. 1848 hat dann aber diese Vorschrift aus den Über-
gangs- unter die allgemcinen Bestimmungen versetzt und hierbei ist es
auch in der revidierten Verf. vom 31. Jan. 1850 verblieben. Art. 109 be-
zieht sich also nicht bloß auf die 1848 bzw. 1850 bestehenden, sondern auf
alle gegenwärtigen und künftigen Steuern und Steuergesetze. Vgl. v. Roenne-
Zorn B 123, 124, 159 fi.; Gneist, Gesetz und Budget 144 ff.; Arndt, Komm.
z. preuß. Verf. 335, 336, 375. ,
2° D. h. im Sinne des altständischen Rechts, der belgischen Verfassung
und der Verfassungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten (oben 880 ff.):
Recht der Volksvertretung, der Regierung von Finanzperiode zu Finanz-
periode die Befugnis zur Erhebung der Steuern, auch der durch Daucr-
gesetze ‚gere elten, zu versagen.
?ı Dies folgt auch aus Ärt. 100 der preuß. Verf.: „Steuern und Abgaben
für die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushaltsetat auf-
genommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden.“
ie dürfen also (und müssen) auch dann erhoben werden, wenn sie in den
Etat nicht aufgenommen sind, wenn sie nur auf „besonderen Gesetzen“,
Dauergesetzen beruhen. Vgl. Gneist, Gesetz und Budget 143, 144,
:2 Nur insoweit! Sonst fehlt es an dem Einnabmebewilligungsrecht