Die Funktionen. $ 212. 993
Das Reich besitzt eine völkerrechtliche Jurisdiktion zur
Entscheidung von Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundes-
staaten®. Dieselbe ist analog derjenigen Gerichtsbarkeit, welche
der deutschen Bundesversammlung durch Art. 11 der BA und die
Austrägalordnung des Bundes übertragen war’, Sie bezieht sich
nur auf Streitigkeiten öffentlichrechtlicher Natur; privatrechtliche
ehören zur Kompetenz der ordentlichen Gerichte. Die angegebenen
Streitigkeiten sollen auf Anrufen eines Teiles vom Bundesrate er-
ledigt werden. Die Befugnis des Bundesrates, sich mit einer der-
artigen Angelegenheit zu befassen, entsteht also erst dadurch, daß
er von einer Partei angerufen wird. Die Erledigung kann ent-
weder durch gütliche Ausgleichung oder durch Urteil erfolgen.
Im letzteren Falle steht es dem Bundesrate frei, die Entscheidung
entweder selbst zu füllen oder sie einer anderen Instanz (z. B.
einem Gerichtshof, einer Juristenfakultät, einem oder mehreren
Sachverständigen) zu übertragen®. [Die Zuständigkeit des Bundes-
Arndt, DJZ 8 497 ff.; Binding, DJZ 4 69 ff.; Perels, Streitigkeiten deutscher
Bundesstaaten auf Grund des Art. 76 RV (Berliner Dissert. 1900); v. Jage-
mann, Vorträge über die RV, 213 ff.; Kekule v. Stradonitz im ArchÖfR 14
1ff.; Oybichowaky, Art. 76 der RV (Straßburger Diss., 1902); Krick, Der
Bundesrat als Schiedsrichter zwischen deutschen Bundesstaaten (Rostocker
rechtswissenschaftl. Studien I, 2); H. Luther, Thronstreitigkeiten u. Bundes-
rat (Berl. Diss. 1904); Sievert, Zuständigkeit des Bundesrats z. Erled. v.
Verf.- u. Thronfolgestreitigkeiten (1906); Dambitsch, RV 668 ff. Von Wichtig-
keit sind besonders die in der Lippeschen Sache ergangenen amtlichen
Beschlüsse und Erklärungen, Vgl. Bundesratsbeschlüsse von 1898 und 1899,
bei v. Seydel a. a. O. 162, 258, ferner die Erklärung des Reiehskanzlers in
der Reichstagssitzung vom 17. Januar 1899. Triepel a. a, O. 456 ff. behandelt
die dem Reiche durch Art. 76 beigelegten Befugnisse als Ausfluß einer be-
sonders gearteten Aufsicht des Reiches gegenüber den Einzelstaaten
(„unparterische Aufsicht“).]
6 RVerf Art. 76 Abs. 1. äegen die Bezeichnung „völkerrechtliche“
Jurisdiktion erhebt Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 210 N. 2 Wider-
spruch, weil das Völkerrecht zwischen den deutschen Einzelstaaten nicht
mehr gelte, sondern „zum Staatsrecht geworden“ sei. Das ist in dieser
Allgemeinheit nicht richtig.) ,
k [Oben 5 48. — Inhalt und Zweck des Art. 11 B. A. sind jedoch von
den Art. 76 KV so verschieden, daß jene ältere Norm nicht als Mittel für
die Auslegung der neueren herangezogen werden darf. Dieser Gesichtspunkt
richtig betont bei Seydel a. a. O. 176 fl.; vgl. auch Perels a. a. O. 15 ff.
[Daß der Bundesrat berechtigt ist, die Entscheidung von Streitsachen,
die gemäß Art. 76 Abs. 1 an ihn aelangt sind, zu delegieren, ist unbestritten.
In allen bisher vorgekommenen Fällen hat der Bundesrat von dieser Be-
fugnis Gebrauch gemacht (Seydel, Komm. 406), Daß er verpflichtet sei,
die Entscheidung, falls der von ihm versuchte gütliche Ausgleich mißlingt,
einer anderen Instanz zu übertragen (so: Seydela.a.O.; v. Roenne, Staater.
des D. Reiches 1 8 23 S. 218 ff.; Arndt, Reichsstaatsr. 111, 112), kann nicht
zugegeben werden; der im Text des Art. 76 stehende Ausdruck „erledigt“
ist so unbestimmt, daß er die richterliche Entscheidung der Sache durch
den Bundesrat selbst unzweifelhaft mit umfaßt. Unric tie ist es ferner,
wenn die Voraufl, S. 788 und Laband 4 269, 270 den Spruch der vom
Bundcsrate gemäß Art. 76 Abs. 1 zur Entscheidung berufenen anderweiten
Instanz (s. 0. im Text) nur die Bedeutung eines Gutachtens beilegen wollen,
welches erst noch der Bestätigung und Publikation durch den Bundesrat
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