Rechtsverhältnisse der Untertanen. 8 217. 055
Aber sie gewährten den Einzelnen gleichzeitig einen Anspruch
auf Freiheit von gewissen Einwirkungen des Staates,
Dieser Anspruch geht auf Unterlassung oder Aufhebung der-
jenigen obrigkeitlichen Befehle, welche mit der gesetzlich fest-
gestellten Freiheit im Widerspruch stehen. Er bildet einen Be-
standteil der individuellen Rechtssphäre und ist mit
der fortschreitenden Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit
in immer höherem Maße richterlichen Schutzes teilhaftig ge-
worden #. |
Eine gesetzliche Fixierung von Grundrechten hatte schon in
der englichen declaration of rights in geringem Umfange statt-
gefunden. In umfassender Weise erfolgte sie dagegen in den Ver-
fassungen der nordamerikanischen Gliedstaaten (zuerst Virginias),
Unter dem Einfluß dieser entstand die französische Erklärung der
Rechte des Menschen und Bürgers vom 26. August 1789, welche
einen Bestandteil der Verfassung vom 3. September 1791 bildet®.
Nach dem Muster derselben haben die meisten europäischen Ver-
fassungen versucht eine Formulierung der individuellen Freiheits-
rechte in kurzen abstrakten Sätzen vorzunehmen®, Dies gilt auch
von den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten,. Derartige all-
gemeine Aussprüche leiden aber meist an dem Übelstande, daß
sie sich zur unmittelbaren praktischen Anwendung nicht eignen,
sondern zu ihrer Durchführung besonderer Ausführungsgesetze
* Einen Anspruch auf Unterlassung und Aufhebung der obrigkeitlichen
Befehle, welche die zum Schutz der Freiheit des Individuums bestehenden
esetzlichen Normen überschreiten, erkennt auch Jellinek, Subjektive Rechte
108 an. Aber warum soll ein Anspruch auf Unterlassen nicht ebenso-
wohl den Inhalt eines subjektiven Rechtes bilden als ein Anspruch auf
Handeln? [Dies gilt auch gegen O. Mayer, VerwR 1 111.] Und wenn
von demjenigen, der in der Vornahme einer Handlung nicht gehindert
werden darf, also einen Anspruch auf Unterlassung widerstreitender obrigkeit-
licher Befehle besitzt, gesagt wird, daß er ein Recht hat, die Handlung
vorzunehmen, so ist das doch nur ein anderer Ausdruck für denselben Ge-
danken, Die letztere Ausdrucksweise befindet sich auch im Einklang mit
dem Sprachgebrauch unserer Gesetze, nicht nur der einzelstaatlichen Ver-
fassungen, sondern auch vieler Reichegesetze, z. B. des Freizügigkeitsgesetzes
8 1, der Reichsgewerbeordnung $ 1, des Reichsvereinsgesetzes $ 1.
5 Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Bei-
trag, zur modernen Verfagsungsgeschichte. 2. Aufl., Leipzig 1904; Wolzen-
dorff, Staatsrecht und Naturrecht (1916) S51ff., 494 ff. ie früher viel-
fach verbreitete Ansicht, daß die Erklärung der Menschenrechte unter
dem Einfluß von Rousseaus contrat social erfolgt sei, ist dadurch widerlegt
worden. [Dem demokratischen Despotismus Rousseaus ist die Vorstellung
von individuellen Grund- und Freiheitsrechten durchaus fremd. „Nur ver-
möge einer Reihe von Inkonsequenzen und Sophismen“ kann Rousseau den
Begriff unzerstörbarer Menschenrechte retten: Gierke, Althusius 8. 117.
Auch der älteren Naturrechtslehre ist die Idee. der Grundrechte fremd:
E. v. Meier, Französ. Einflüsse 1 57, 58. — Daß die declaration des droits
von 1789 kein französisches Originalgewächs, sondern eine Kopie amerikani-
scher Vorbilder ist, wird in Frankreich unter dem Einfluß nationaler Eitel-
keit bestritten; vgl. darüber E. v. Meier a.a. 0.118 und dort besprochenen
Angriffe Boutmys gegen Jellinek.)
° Vgl. hierüber insbes. die oben Anm. 1 zitierten Bücher von Giese
und Eckhardt.