124
schon im öffentlichen Gewissen begründet seien, ihre Kenntnis bei jedem ohne
weiteres angenommen werden müsse. Man kann aber nicht in demselben Atem
erklären: die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse müsse von einer einheitlichen
Normierung des Pflichtgebots im Strafgesetz Abstand nehmen lassen, deshalb
sei die Form des Blankettstrafgesetzes zu wählen, um daran die Fiktion anzu—
knüpfen: das einzelne Pflichtgebot sei von vornherein jedem bekannt. Eine sich
ihres Ausgangspunktes bewußte Lehre von der Unterscheidung zwischen straf-
rechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum durfte daher nicht in der blankett-
ausfüllenden Norm einen Teil des Strafgesetzes erblicken.?)
Dementsprechend ist denn auch das RG. in einer fast als völlig konstant
zu bezeichnenden Judikatur verfahren. Ein Blick in die zu den viehseuchen-
polizeilichen Bestimmungen ergangene Rechtsprechung des höchsten Gerichts-
hofes genügt, um sich davon zu überzeugen. Fast ausnahmslos 2e) hat das
25) Die folgerichtige Durchführung eines Prinzips, also gerade nicht, wie
Lobe a. a. O. S. 725 annimmt: notwendige Konzessionen, die der Fiktion
von der allgemeinen Normenkenntnis zu machen seien, haben das RG. zu der
Anerkennung gebracht, daß die blankettausfüllende Norm nicht Teil des Straf-
gesetzes ist. Eine solche Fiktion ließe sich nämlich speziell für sehr viele blankett-
ausfüllende Normen sehr wohl vertreten. Häufig beschränken sich diese Normen
auf die in einer Stadt ansässigen Personen oder die Angehörigen eines be-
stimmten Gewerbebetriebs. Die Regelmäßigkeit der Rechtsbeziehungen die so
begründet ist, läßt den einzelnen Imperativ oft viel mehr allgemein bekannt werden,
als die von einer Zentralbehörde erlassenen Vorschriften genereller Bedeutung
(s. Köhler a. a. O. S. 40 f.). Unter Berücksichtigung dieses Umstandes kann
es deshalb sogar sehr leicht im Einzelfall Bedenken erregen, daß die Nichtkenntnis
einer blankettausfüllenden Norm im Gegensatz zur Nichtkenntnis des Strafgesetzes
als den Vorsatz ausschließend angesehen werden muß. Das auf den ersten Blick
unerfreuliche Ergebnis wird aber in seiner praktischen Bedeutung dadurch gemildert,
daß man in der Praxis meist weitgehend die Kenntnis dieser Norm voraussetzen
kann und in sehr vielen Fällen jedenfalls die Möglichkeit einer Bestrafung wegen
Fahrlässigkeit übrigbleibt.
26) Als Ausnahme ist zu konstatieren eine ältere Entscheidung des
III. Senats vom 1. Oktober 1885, Entsch. Bd. 12 S. 398 auf S. 399. Auch ist nach
einer Mitteilung, die dem Urteil des I. Senats vom 3. Juli 1913, Entsch. Bd. 47
S. 282 auf S. 285 zu entnehmen ist, der IV. Senat unter dem neuen Viehsteuchen-
gesetz in einem Urteil vom 22. November 1912 von dieser Auffassung abgewichen.
Schon daraus, daß der IV. Senat dieses Urteil nicht zum Abdruck übergeben hat,
darf wohl entnommen werden, daß diesem Senat selber später das Bedenken gekommen
ist, ob nicht besser an der bisherigen Rechtsanschauung festzuhalten sei. Jedenfalls
kann nicht mit Köhler a. a. O. S. 29 gesagt werden, daß das RG. den Irrtum
über die in dem Blankettgesetz vorgesehene Bestimmung bald dem Strafrecht, bald
einem anderen Rechtsgebiet angehören lasse. In dem von Köhler für das
Schwanken des RG. auch angezogenen Urteil des III. Senats vom 2. Juni 1896,
Entsch. Bd. 28 S. 399, handelte es sich nicht um eine Blankettvorschrift, sondern
um ein Strafgesetz, das durch eine außerstrafrechtliche Bestimmung desselben Ge-
setzes ausgefüllt wurde, also um den oben sub 1 a von uns behandelten Fall.