Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Erster Band. Deutsches Reich. (1)

§ 55. Der Reichstag. 101 
b) Er hat Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in 
deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitig- 
keiten bestimmt ist, auf Anrufen eines Teiles gütlich auszugleichen, 
oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung 
zur Erledigung zu bringen (RV. Art. 76 Abs. 2). 
c) Er hat, wenn in einem Bundesstaate der Fall der Justizver- 
weigerung eintritt, und auf gesetzlichem Wege ausreichende Hilfe nicht 
erlangt werden kann, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden 
Gesetzen des betreffenden Bundesstaates zu beurteilende Beschwerden 
über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, und darauf 
die gerichtliche Hilfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde 
Anlaß gegeben hat, zu bewirken (RV. Art. 77). 
g 55. e) Der Reichstag.) 
I. Wesen und Befugnisse. 
Der Reichstag hat staatsrechtlich dieselbe Funktion wie der Landtag 
in den Einzelstaaten. Er stellt die Vertretung des deutschen 
Volkes dar, hervorgegangen aus allgemeinen und direkten Wahlen 
mit geheimer Abstimmung. Er hat keine juristische Persönlichkeit. 
Er ist nicht Mitträger der Souveränität, sondern im wesentlichen 
Organ der Gesetzgebung (RV. Art. 5, 23, 73, 76 Absl. 2), aber auch 
der Verwaltung und Regierung (RV. Art. 11 Abs. 3, 26, 72). Be- 
sonders hat der Reichstag bei der alljährlichen Feststellung des Reichs- 
haushaltsetats mitzuwirken (RV. Art. 69). 
Die Tätigkeit des Reichtages tritt in vier Formen auf: 
1. Für einzelne Akte ist seine Mitwirkung erforderlich, d. h. der Akt 
wird erst durch Zustimmung des Reichstages rechtsgültig, so bei der Reichs- 
gesetzgebung (RV. Art. 5), einschließlich der Feststellung des Reichshaus- 
haltsetats (RV. Art. 69) und der Aufnahme von Anleihen (RV. Art. 73). 
2. Für gewisse Akte reicht die Genehmigung aus, d. h. der 
vorgenommene Akt ist schon vor der Zustimmung des Reichstages 
rechtsgültig, aber die Genehmigung muß noch hinzutreten, um den 
Akt unanfechtbar zu machen. Eine derartige Genehmigung ist erforderlich 
bei Verträgen mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der 
Reichsgesetzgebung beziehen (RV. Art. 11 Abs. 2), oder bei Verord- 
nungen, welche bei nicht versammeltem Reichstage durch die Regierungs- 
organe erlassen werden können, aber außer Kraft treten, wenn der 
Reichstag nachträglich seine Genehmigung versagt, so z. B. bei Not- 
verordnungen in Elsaß-Lothringen. 
3. Zuweilen hat der Reichstag das Recht der Kenntnisnahme, 
z. B. bei Einziehung alter Münzen (Ges. vom 4. Dez. 1871 8 11). 
Nach RV. Art. 23 hat der Reichstag das Recht der „Initiative“ 
bei Gesetzesvorschlägen und der überweisung der an ihn gerichteten 
Petitionen an den Bundesrat oder Reichskanzler (RV. Art. 23). 
1) NV. Art. 20—32, RG. v. 31. 5. 69. R. v. 25. 6. 73 § 3. RNG. v. 
2. 5. 74 § 49. Literatur: Laband §§ 32—38, G. Meyer §§ 128 ff., Zorn § 8, 
Arndt §§ 19—21, Seydel, Noten zu Art. 20 ff., Rieker, rechtl. Natur der modernen 
Volksvertretung. (1898.) 
 
	        
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