Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Erster Band. Deutsches Reich. (1)

§ 55. Der Reichstag. 109 
Die Verhandlungen des Reichstages sind nach der Verfassung 
(Art. 22) öffentlich. 
Nach § 36 GO. ist zwar ein Ausschluß der Offentlichkeit der Verhand- 
lungen vorgesehen, aber mit Rücksicht auf die positive Bestimmung des Art.22 
sind diese Verhandlungen nicht als solche des Reichstages anzusehen, sondern 
höchstens als Privatbesprechung einzelner Reichstagsabgeordneter. 
Von den Sitzungen der Kommissionen können Nichtmitglieder der- 
selben durch Beschluß des Reichstages ausgeschlossen werden (GO. 827). 
Die Geschäftsleitung liegt dem Präsidenten ob; er eröffnet 
und schließt die Sitzung, bestimmt Tag, Stunde und Tagesordnung 
der nächsten Sitzung (GO. 8§ 13, 35, 37). 
Über jede Sitzung wird ein Protokoll geführt, das die Beschlüsse, 
Interpellationen nebst der Bemerkung, ob sie beantwortet sind, und 
amtliche Mitteilungen des Präsidenten enthalten muß (GO. 8 39). 
Über die Verhandlungen selbst werden stenographische Berichte auf- 
genommen und veröffentlicht (GO. § 15). 
Über die Mitglieder und Beamten des Reichstages (nicht jedoch 
über die Mitglieder des Bundesrates) steht dem Präsidenten die 
Hauspolizei und Disziplinargewalt zu. 
Der Präsident erteilt jedem Mitgliede des Reichstages, welches 
sprechen will, das Wort. Um die Reihenfolge der sich zum Wort 
Meldenden zu wahren, wird eine Rednerliste aufgestellt. Bevor nicht 
das Wort erteilt wird, darf kein Mitglied des Reichstages sprechen 
(GO. § 42). Bundesratsmitglieder und Kommissarien müssen jederzeit 
gehört werden und können den Sitzungen der Abteilungen mit 
beratender Stimme beiwohnen (RV. Art. 9 und GO. 88 43, 29). 
Das Wort zur Geschäftsordnung wird nur nach dem freien Ermessen 
des Präsidenten erteilt. Eine von demselben zugelassene Bemerkung 
zur Geschäftsordnung darf die Dauer von 5 Minuten nicht übersteigen. 
(Berichtigter § 44 Satz 1 der GO. durch den Antrag Gröber vom 
9. Dezember 1902.) 
Zur sachgemäßen Leitung der Verhandlungen stehen dem Präsidenten 
folgende Befugnisse zu: Entfernt sich ein Redner von der Ordnung. 
oder dem Gegenstande der Versammlung, so kann ihn der Präsident 
zur Ordnung rufen. Ist dies zum dritten Male nötig, so kann dem 
Redner durch Beschluß des Reichstages das Wort entzogen werden 
(GO. 8 46). Gegen den Ordnungsruf ist Einspruch zulässig (GO. 
§ 90). Auf Antrag Roeren beschloß das Plenum am 16. Februar 1895, 
daß der Präsident berechtigt sei, in dem Falle einer gröblichen Ver- 
letzung der Ordnung u. s. w. nach dem dritten Ordnungsrufe ein 
Mitglied von der Sitzung auszuschließen. 
Unruhe in der Versammlung gibt dem Präsidenten das Recht, die 
Sitzung auszusetzen oder aufzuheben (GO. 8§ 61). Kann sich der 
Präsident kein Gehör verschaffen, so bedeckt er sein Haupt, wodurch 
die Sitzung auf eine Stunde unterbrochen wird (GO. 8 61). 
Benimmt sich das Publikum auf den Tribünen unruhig oder un- 
gehörig, so kann der Präsident die Ruhestörer entfernen lassen oder 
die Räumung der Tribünen anordnen (GO. 8§§ 63, 64). 
 
	        
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