110 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
Vorlagen des Bundesrates, sowie alle von 15 Reichstags-
mitgliedern unterzeichneten Anträge, sofern letztere Gesetzentwürfe
enthalten, müssen dreimal beraten werden. Bei Anträgen von
Mitgliedern ohne Gesetzescharakter genügt einmalige Beratung.
Die erste Beratung beschränkt sich auf eine allgemeine Diskussion
über die Grundsätze des Entwurfs. Nach dem Schlusse derselben be-
schließt der Reichstag, ob eine Kommission mit der Vorberatung zu
beauftragen ist.
Die zweite Beratung bezieht sich auf die einzelnen Artikel (8§§) und
Abänderungsvorschläge. Die gefaßten Beschlüsse werden vom Präsidenten
unter Beihilfe der Schriftführer zusammengestellt. Diese Zusammen-
stellung bildet die Grundlage der
dritten Beratung. Abänderungsvorschläge, welche hier noch nach der
zweiten Beratung eingebracht werden, bedürfen der Unterstützung von
30 Mitgliedern. Es findet eine nochmalige Diskussion über die Grund-
sätze des Entwurfs statt, sodann über die einzelnen Artikel und
Amendements. Nach Schluß der Beratung wird über Annahme und
Ablehnung des Gesetzentwurfs im ganzen abgestimmt (GO. 8§ 17 ff.).
Der Abstimmungsmodus ist verschieden.
In der Regel wird die absolute Majorität ermittelt durch Auf-
stehen oder Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis zweifelhaft, so wird
die Gegenprobe gemacht. Liefert auch diese kein sicheres Ergebnis,
so erfolgt die Zählung des Hauses, der sogen. Hammelsprung
(RV. Art. 28, GO. 88 55, 56). Der Hammelsprung besteht darin,
daß auf das Glockenzeichen des Präsidenten, nachdem sämtliche Ab-
geordnete vorher den Sitzungssaal verlassen haben, und alle Türen bis
auf zwei geschlossen sind, diejenigen Abgeordneten, welche mit „ja“
stimmen, durch die eine offene Tür hineinkommen, während diejenigen,
welche mit „nein“ stimmen wollen, durch die andere offene Tür den
Saal betreten. An beiden Türen sind die Schriftführer aufgestellt,
welche die Hereintretenden zählen (GO. § 56).
Bei Stimmengleichheit gilt der Antrag bezw. die Gesetzesvorlage
als abgelehnt (GO. 8 51).
Die Beschlußfähigkeit kann nur vor und während der Abstimmung fest-
gestellt, nachher nicht mehr angezweifelt werden (G. 8 54).
Über die Form der namentlichen Abstimmung bestimmt § 58
d. GO., in der Fassung des Antrages Aichbichler vom 14. November
1902, daß die Abgeordneten durch Abstimmungskarten, enthaltend den
Namen des Abstimmenden und die Bezeichnung „Ja“, „Nein“, „Ent-
halte mich“ abstimmen. Die Schriftführer sammeln die Karten und
zählen sie; die Namen werden in den stenographischen Bericht auf-
genommen. — Zur Beschleunigung der Abstimmung sind farbige Zettel
und geteilte Urnen eingeführt; weiß = ja, rot = nein, blau -ent-
halte mich.
8§ 56. d) Die Reichsbehörden.
a) Allgemeines.
I. Reichsbehörden sind diejenigen Behörden, welchen die Erledigung
von Reichsangelegenheiten im Namen des Reichs obliegt.