60 2. Buch. 2. Abschnitt. Verfassungsrecht des Deutschen Reiches.
Als oberstes Organ der Staatsgewalt im Reichslande fungiert der
Kaiser allein. Er ist Staatshaupt, aber nicht Monarch von Elsaß-
Lothringen. Wie die Motive zum RGes. vom 9. Juni 1871 mit Recht
hervorheben, „übt der deutsche Kaiser als erblicher Vertreter der
Gesamtheit, welcher die Souveränität über das Reichsland zusteht, die
landesherrlichen Rechte über das Reichsland aus“. Deshalb wird in
seinem Namen Recht gesprochen, ihm gebührt grundsätzlich die Gesetz-
gebung, er leitet an oberster Stelle die Verwaltung.
II. Verfassung und Verwaltung des Reichslandes.
Die Entwickelung ist eine stufenweise.
a) Zeit der militärischen Okkupation und der Verwaltung
des Generalgouvernements (14. Aug. 1870 bis 28. Juni 1871). Auf
diese Zeit folgt
b) die kaiserliche Diktatur (bis 1874). An deren Stelle
tritt mit Einführung der Reichsverfassung am 1. Januar 1874
c) die Herrschaft der Reichsgesetzgebung. In den ersten
drei Jahren regierte der Kaiser in dem Reichslande mit absoluter
Machtvollkommenheit. Doch war er für die Gesetzgebung an eine
Zustimmung des Bundesrats gebunden, für Aufnahme von Anleihen
und Übernahme von Garantien auch an die Zustimmung des Reichs-
tags. Mit Einführung der Reichsverfassung (1. Januar 1874) verlor
der Kaiser das Gesetzgebungsrecht. Dies Recht fiel fortan allein
dem Reiche zu, d. h. dem Bundesrate und dem Reichstage, der
Kaiser hatte nur noch die Ausfertigung und Verkündigung (RV. Art. 5
u. 17). Erst das Reichsgesetz vom 2. Mai 1877 gab dem Keiser die
Gesetzgebung teilweise zurück. Seitdem ist die Entstehung der
Gesetze für Elsaß-Lothringen auf doppeltem Wege möglich:
a) im Wege der Reichsgesetzgebung durch übereinstimmenden Be-
schluß des Bundesrats und des Reichstages unter Ausfertigung und
Verkündigung seitens des Kaisers. Die Kontrasignatur geschieht vom
Reichskanzler. Elsaß-Lothringen ist mit 15 Abgeordneten am Reichs-
tage beteiligt;
6) im Wege der Landesgesetzgebung durch Erlaß des Kaisers
unter Zustimmung des Bundesrats und des Landesausschusses. Die
Kontrasignatur geschieht vom Statthalter.
III. Behördenorganisation.)
1. Mit der Einführung der RV. war die Spitze der reichsländischen
Verwaltung der Kaiser und sein Minister, der Reichskanzler. Im
Reichskanzleramte wurde das Ressort der inneren Angelegenheiten des
Reichslandes der neuen, dritten Abteilung zugewiesen. Die Bezirks-
präsidenten, die eine den französischen Präfekten gleiche Stellung ein-
nehmen, wurden unter ein mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattetes
Oberpräsidium gestellt. Der Oberpräsident unterstand unmittelbar dem
Reichskanzler.
2. Durch die RE. vom 2. Mai 1877 und 4. Juli 1879 ist die
Behördenorganisation völlig umgestaltet worden. Die Zentralverwaltung
1) RGes. v. 19. Juni 1871; v. 30. Dez. 1871; v. 2. Mai 1877; v. 4. Juli
1879. Vgl. insbesondere Hübler, Die Organisation der Verw. Berlin 1898 S. 84 ff.