Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Zweiter Band. Preußen. (2)

§ 144. Der Kulturkampf mit der römisch-katholischen Kirche. 527 
und Kirche schärfer zu markieren. Um zunächst den Vorwurf der Ver- 
fassungswidrigkeit seitens der katholischen Kirche zu beseitigen, wurde 
eine Abänderung der Art. 15, 16 und 18 der preußischen Verfassungs= 
urkunde durch Gesetz vom 5. April 1873 (GS. S. 143) im Interesse 
des Staates vorgenommen, welcher demnächst durch das Gesetz vom 
18. Juni 1875 (GS. S. 259) die vollständige Aufhebung dieser be- 
anstandeten Verfassungsartikel folgte. 
Damit waren einer planmäßigen Regelung des Verhältnisses zwischen 
Staat und Kirche die Wege geebnet. 
8144. Der Kulturkampf mit der römisch-katholischen Kirche. 
Um den pöpstlichen Übergriffen entgegenzutreten, ging man in Deutsch- 
land sowohl von Reichs wegen, als auch in Preußen durch eine plan- 
mäßige Umgestaltung der Gesetzgebung vor. 
à) Von Reichs wegen. Durch Gesetz vom 10. Dezember 1871 
wurde hinter § 130 des Strafgesetzbuchs der sogenannte Kanzelpara- 
graph § 130 a eingefügt, welcher den Mißbrauch der Kanzel seitens 
Geistlicher und anderer Religionslehrer zwecks Erörterung von An- 
gelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährden- 
den Weise mit Gefängnis= bezw. Festungshaftstrafe bedroht. Durch RG. 
vom 4. Juli 1872 (RöBl. S. 253) ist der Orden der Gesellschaft 
Jesu nebst den ihm verwandten Orden und ordensähnlichen Kon- 
gregationen vom Gebiete des Deutschen Reiches ausgeschlossen, Neu- 
errichtung von Niederlassungen verboten, die Auflösung der bestehenden 
angeordnet (vgl. dazu Rl. 1872 S. 254, 1873 S. 109). Durch 
RG. vom 4. Mai 1874 (sog. Expatriierungsgesetz), betreffend die 
Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern wurde be- 
stimmt, daß inländische Geistliche beim Zuwiderhandeln gegen dieses 
Gesetz ihrer Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt, und aus dem 
Reichsgebiet ausgewiesen werden könnten. Endlich wurde durch das 
Reichspersonenstandsgesetz vom 6. Februar 1875 die bis dahin der 
Kirche vorbehaltene Beurkundung des Personenstandes und die Ehe- 
schließung ausschließlich staatlichen Organen (Standesbeamten) über- 
tragen und damit für ganz Deutschland (für Preußen bestand sie schon 
vorher durch Gesetz vom 9. März 1874) die obligatorische Zivilehe 
eingeführt. 
)In den deutschen Einzelstaaten wurde gleichfalls im Wege 
der Landesgesetzgebung die rechtliche Stellung des Staats zur 
katholischen Kirche näher geregelt. 
In umfassendster Weise ging Preußen vor. Die kirchenpolitische 
Gesetzgebung umfaßt organische und Kampf-Gesetze. 
Unter den ersteren sind zu nennen: Gesetz vom 11. März 1872, 
betreffend die Aufsicht des Unterrichts= und Erziehungs- 
wesens, vom 11. Mai 1873 (und 21. Mai 1874) über die Vor- 
bildung und Anstellung der Geistlichen (Abiturientenprüfung 
auf einem deutschen Gymnasium, dreijähriges Studium auf einer 
deutschen Universität, Ablegung einer Staatsprüfung, des sog. 
Kulturexamens), Anzeigepflicht von der Besetzung eines geist- 
  
 
	        
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