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3. Aus dem deutschen diplomatischen Schriftwechsel.
Nr. 1.
Kunderlaß des Keichskanzlers.
Der Reichskanzler an die Kaiserlichen Botschafter in Paris, London, St. Peters.
burg am 23. Juli 1914:
Die Veröffentlichungen der Österreichisch-Ungarischen Regierung über die Umstände,
unter denen das Attentat auf den österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin
stattgefunden hat, enthüllen offen die Ziele, die sich die großserbische Propaganda
gesetzt hat, und die Mittel, deren sie sich zur Verwirklichung derselben bedient. Auch
müssen durch die bekannt gegebenen Tatsachen die letzten Zweifel darüber schwinden,
daß das Aktionszentrum der Bestrebungen, die auf Loslösung der südflawischen Pro-
vinzen von der österreichisch-ungarischen Monarchie und deren Vereinigung mit dem
serbischen Königreich hinauslaufen, in Belgrad zu suchen ist, und dort zum mindesten
mit der Konnivenz von Angehörigen der Regierung und Armee seine Tätigkeit entfaltet.
Die serbischen Treibereien gehen auf eine lange Reihe von Jahren zurück. In
besonders markanter Form trat der großserbische Chauvinismus während der bos-
nischen Krisis in die Erscheinung. Nur der weitgehenden Selbstbeherrschung und
Mäßigung der Österreichisch-Ungarischen Regierung und dem energischen Einschreiten
der Großmächte war es zuzuschreiben, wenn die Provokationen, welchen Österreich.
Ungarn in dieser Zeit von seiten Serbiens ausgesetzt war, nicht zum Konflikte
führten. Die Zusicherung künftigen Wohlverhaltens, die die Serbische Regierung
damals gegeben hat, hat sie nicht eingehalten. Unter den Augen, zum mindesten
unter stillschweigender Duldung des amtlichen Serbiens, hat die großserbische Pro-
paganda inzwischen fortgesetzt an Ausdehnung und Intensität zugenommen; auf ihr
Konto ist das jüngste Verbrechen zu setzen, dessen Fäden nach Belgrad führen. Es
hat sich in unzweideutiger Weise kundgetan, daß es weder mit der Würde noch mit
der Selbsterhaltung der Osterreichisch-Ungarischen Monarchie vereinbar sein würde, dem
Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen, durch das die Sicherheit
und die Integrität ihrer Gebiete dauernd bedroht wird Bei dieser Sachlage können
das Vorgehen sowie die Forderungen der Osterreichisch-Ungarischen Regierung nur als
gerechtfertigt angesehen werden. Trotzdem schließt die Haltung, die die öffentliche
Meinung sowohl als auch die Regierung in Serbien in letzter Zeit eingenommen hat,
die Befürchtung nicht aus, daß die Serbische Regierung es ablehnen wird, diesen
Forderungen zu entsprechen, und daß sie sich zu einer provokatorischen Haltung
Osterreich-Ungarn gegenüber hinreißen läßt. Es würde der Österreichisch-Ungarischen
Regierung, will sie nicht auf ihre Stellung als Großmacht endgültig Verzicht leisten,
nichts anderes übrigbleiben, als ihre Forderungen bei der Serbischen Regierung durch
einen starken Druck und nötigenfalls unter der Ergreifung militärischer Maßnahmen
durchzusetzen, wobei ihr die Wahl der Mittel überlassen bleiben muß.