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Das erwähnte Schreiben enthälk einige Bemerkungen von besonderem Interesse
Es heißt dort an einer Stelle, Oberstleutnant Barnardiston habe bemerkt, daß man
zur Zeit auf die Unterstützung Hollands nicht rechnen könne. Er habe ferner ver.
traulich mitgeteilt, daß die englische Regierung die Absicht habe, die Basis für den
englischen Verpflegungsnachschub nach Antwerpen zu verlegen, sobald die Nordsee vom
allen dentschen Kriegsschiffen gesäubert sei. Des weiteren regte der englische Militar-
attache die Einrichtung eines belgischen Spionagedienstes in der Nheinprovinz an.
Das vorgefundene militärische Material erfährt eine wertvolle Ergänzung durch
einen ebenfalls bei den Geheimpapieren befindlichen Bericht des langjährigen belgischen
Gesandten in Berlin, Baron Greindl), an den belgischen Minister des Außern, in dem
mit großem Scharfsinn die dem englischen Angebot zugrunde liegenden Hintergedanken
enthüllt werden, und in dem der Gesandte auf das Bedenkliche der Situation hin
weist, in die sich Belgien durch eine einseitige Parteinahme zugunsten der Entente-
mächie begeben habe. In dem sehr ausführlichen Bericht, der vom 23. Dezember 1911
datiert ist, und dessen vollständige Veröffentlichung vorbehalten bleibt, führt Baron
Greindl aus, der ihm mitgeteilte Plan des belgischen Generalstabs für die Verteidi-
gung der belgischen Neutralität in einem deutsch. französischen Kriege beschäftigte sich
nur mit der Frage, was für militärische Maßnahmen für den Fall zu ergreifen
seien, daß Deutschland die belgische Neutralität verletze. Die Hypothese eines fran-
zösischen Angriffs auf Deutschland durchl Belgien habe aber gerade so viel Wahrschein.
lichkeit für sich. Der Gesandte führt dann wörtlich folgendes aus:
»Von der französischen Seite her droht die Gefahr/nicht nur im Süden von
Luxemburg. Sie bedroht uns auf unserer ganzen gemeinsamen Grenze. Jür diese
Behauptung sind wir nicht nur auf Mutmaßungen angewiesen. Wir haben dafür
positive Anhaltspunkte. "
Der Gedanke einer Umfassungsbewegung von Norden her gehört zweifellos zu
den Kombinationen der Entente cordiale. Wenn das nicht der Fall wäre, so hätte
der Plan, Vlissingen zu befestigen, nicht ein solches Geschrei in Paris und London
hervorgerufen. Man hat dort den Grund gar nicht verheimlicht, aus dem man
wünschte, daß die Schelde ohne Verteidigung bliebe. Man verfolgte dabei den Jweck,
unbehindert eine englische Garnison nach Antwerpen überführen zu können, also den
Iweck, sich bei uns eine Operationsbasis für eine Offensive in der Richtung auf den
Niederrhein und Westfalen zu schaffen und uns dann mit fortzureißen, was nicht
schwer gewesen wäre. Denn nach Preisgabe unseres nationalen ZJufluchtsortes hätten
wir durch unsere eigene Schuld uns jeder Möglichkeit begeben, den Forderungen
unserer zweifelhaften Beschützer Widerstand zu leisten, nachdem wir so unklug gewesen
wären, sie dort zuzulassen. Die ebenso perfiden wie naiven Eröffnungen des Obersten
Barnardiston zur Zeit des Abschlusses der Entente gordiale haben uns deutlich ge-
zeigt, um was es sich handelte. Als es sich herausstellte, daß wir uns durch die
angeblich drohende Gefahr einer Schließung der Schelde nicht einschüchtern ließen,
wurde der Plan zwar nicht aufgegeben, aber dahin abgeändert, daß die englische
Hilfsarmee nicht an der belgischen Küste, sondern in den nächstliegenden französischen
Häfen gelandet werden sollte. Hierfür zeugen auch die Enthüllungen des Kapitäns
Faber, die ebensowenig dementiert worden sind wie die Nachrichten der Zeitungen,
durch die sie bestätigt oder in einzelnen Punkten ergänzt worden sind. Diese in Calais
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