Das Deutsche Reih und seine einjelnen Glieder. (März 23.) 71
Gesetzes mitzuarbeiten, muß ein Stolz für jeden Starken sein. Aber dieses
Streben darf nicht der alleinige und ausschließliche Inhalt unseres Lebens
bilden. Parallel muß das Streben gehen, die besten und edelsten Kräfte,
die ein Volk und darüber hinaus die Menschheit zu produzieren vermag,
zu Führern des Lebens zu machen. Das sollten auch diejenigen bedenken,
die so ungestüm nach einem neuen Wahlrecht rufen und die sich in erster
Linie als die Vertreter der modernen Entwickelung bezeichnen. Ich habe
in diesen beiden letzten Wochen einen Ausdruck gebraucht, von dem ich
weiß, daß er gefährlich ist und vielfach mißbraucht wird. Wohin streben
die Kräfte? Wenn man lediglich auf die Stimmen hört, die in der
Oeffentlichkeit hervortreten, dann müßte man vielleicht glauben, daß wir
einer allmählichen Nivellierung rettungslos entgegeneilen. Aber das ist
ja gerade das Charakteristische, daß diejenigen Kräfte, welche die Produ-
zenten unserer materiellen und geistigen Güter sind, die Kräfte, die viel-
leicht auch der Dichter im Auge hatte, wenn er von ihnen sagte, daß sie
der Gottheit lebendiges Kleid wären, daß das, was diese Kräfte wollen
und was sie erstreben, durchaus nicht etwas Demokratisches ist. Die Er-
findungen auf dem Gebiete der Chemie und der Physik, der erobernde
Fleiß unseres Kaufmanns, die Entwickelung unserer Landwirtschaft und,
so paradox es klingen mag, der gewaltige Ansturm unserer Arbeiterschaft,
was sind diese anders als ein Zeichen dafür, daß Triebkräfte in unserm
Volke arbeiten, welche nicht nivellierend sind, welche nicht gleichmachen
wollen, welche höher hinaus wollen? Es mag sehr schwer sein, in einer
Zeit der Gärung, wie der unfrigen, Prognosen stellen zu wollen; sie
werden immer subjektiv gefärbt sein. Aber wenn man nach einer Erklä-
rung trachtet, warum denn die religiösen Dinge unsere Zeit so innerlich
aufregen, wenn man sieht, wie unsere Philosophie langsam, aber allmählich
den großen Aristokraten des Geistes Kant erkannt hat, wie auch unsere
Naturphilosophie in dem Kern dessen, was sie lehrt, weniger Wert zu
legen beginnt auf den Anfangspunkt als auf die Gewißheit, daß man
immer wieder zum Höheren aufsteigen muß, — ist es dann wirklich ein
Zeichen von Schwärmerei, wenn man sagt, daß die Kräfte, welche für
unsere Nation bestimmend sind, nicht die Höhe gleich machen, sondern zu
immer Höherem hinaufsteigen? Wenn diese Kräfte in unserem Volke noch
nicht erstorben sind, Kräfte, die mit unserer historischen Entwickelung zu-
sammenhängen, die sich mit Unwillen abwenden von den Auswüchsen einer
Bewegung, die schließlich alles Menschliche zu vernichten trachtet, weil ihr
nichts Menschliches mehr heilig ist, weil sie keine Achtung vor den ewigen
Gesetzen der Liebe und Treue zum Stamme ihres Volkes hat, vor dem
gemeinsamen Herde und vor allem, was das Haus beherbergt, die nichts
will, als ihre Macht zu etablieren auf den Fundamenten des Hasses und
Terrorismus, nein, es bestehen in unserem Volke noch Kräfte, welche dieses
Treibens satt sind, und diesen Kräften wird unsere Zukunft gehören. Nun
werden Sie fragen, weshalb ich diese Ausführungen gerade hier bei diesen
Gesetzentwürfen gemacht habe. Wenn ich meine persönlichen Anschauungen
hier auseinandergesetzt habe, so geschah es, um daraus eine ganz nüchterne
Schlußfolgerung zu ziehen, die Schlußfolgerung, daß man von dem Ernst
der Wahlrechtsfrage sehr tief durchdrungen sein kann, auch wenn man nicht
glaubt, sie im Handumdrehen und in der Ungeduld des Augenblicks oder
nach einem Rezept lösen zu können, und daß alle treibenden und schaffenden
Elemente unserer Nation sich zusammenfassen müssen, und daß es kein Wahl-
recht der Zukunft geben kann und geben wird, das nicht aufgebaut ist auf
dem offenen und ehrlichen Zusammenarbeiten dieser Elemente. (Lebhafter
Beifall rechts, Zischen links.)