Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

88 Artikel 2. Rechtszustand neu erworbener Gebiete. 
Gemarkungszuwachs ipso iure in Kraft trete, indem der Geltungsbereich 
solcher örtlichen Normen sich auf den jeweiligen Umfang des betr. 
Bezirkes erstrecke (eingehende Darstellung und Kritik dieser Judikatur 
des OVG bei Koch a. a. O.). Aber nur insoweit. Dagegen, daß der von 
ihm für Veränderungen von Verwaltungs- und Gemeindebezirken ausge- 
stellte Grundsatz auch auf die Akzessionen des Staatsgebietes und deren 
Rechtszustand anwendbar sei, hat sich das OG wiederholt deutlich 
verwahrt (Entsch. 37 412, 48 23) und im übrigen gerade durch seine 
Judikatur ungezählte Belege und Beispiele dafür geliefert, in wie 
weitem Umfange das vor der Annexion geltende Recht neu erworbener 
Landesteile dort seinen Bestand behaupten kann. Die Verwaltungs- 
praxis steht hiermit vollkommen im Einklang. Auch sie hat, in Preußen 
wie anderwärts in Deutschland, nie daran gezweifelt, daß der Wechsel 
der Herrschaft über ein Gebiet nicht von selbst den Wandel der Rechts- 
ordnung bedinge. Man denke an die Aufrechterhaltung des französischen 
Rechts in der preußischen Rheinprovinz, in der Rheinpfalz, Rhein- 
hessen, Elsaß-Lothringen, an die zahlreichen Gesetze aus vorpreußischer 
Zeit, deren Fortgeltung in den 1866 erworbenen Provinzen auch seitens 
der Verwaltung immer anerkannt worden ist. Nicht anders stellt sich 
der Landtag zu der Frage; vgl. z. B. HdAbg Sten Ber 1866 S. 257 
(Gneist), 261 (Waldeck); HH# Sten Ber 1877 S. 76 (Graf z. Lippe). — 
Dies das Prinzip. Wie steht es nun mit seinen Ausnahmen: welche 
Kategorien von Rechtssätzen treten, nach ihrer Natur oder nach dem 
Willen des Gesetzgebers, unmittelbar vermöge der Inkorporation, ohne 
daß es ausdrücklicher Einführung bedarf, im Gebietszuwachs in Kraft? 
In erster Linie gehört hierher die Verfassung, im formellen 
und im materiellen Sinne, d. h. nicht nur die Vurk mitsamt allen von 
ihr in Bezug genommenen, vorausgesetzten oder sonst von ihr nicht 
trennbaren Neben-, Ausführungs- und Ergänzungsgesetzen (z. B. Wahlge- 
setzen), sondern auch die anderweitigen, mit formeller Verfassungsgesetzes- 
kraft nicht ausgestatteten Normen über die Formation und Zuständigkeit 
staatlicher Zentralorgane. Die gleichmäßige Erstreckung aller dieser Vor- 
schriften und der durch sie geregelten Einrichtungen über das gesamte je- 
weilige Staatsgebiet mit automatischem Einschluß aller Annexionen ergibt 
sich daraus, daß durch die Erwerbung eines Gebietes das materielle Ver- 
fassungsrecht des Staates, dem die Fläche bisher angehört, infolge Wegfalls 
der Voraussetzungen dort von selbst erlischt und — da ein staatsrechtliches 
Vakuum, ein verfassungsloser Zustand in einem Verfassungsstaate nicht als 
gewollt vermutet werden darf — sofortigen Ersatz finden muß in dem Ver- 
fassungsrecht des inkorporierenden Staates, wodurch auch dem Grund-
	        
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