Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 4. Entstehungsgeschichte. 107 
AKrtikel 4. 
Alle Hreußen sind vor dem Gesetze gleich. Standes- 
vorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Amter sind, unter 
Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Zedingungen, 
für alle dazu Befähigten gleich zugänglich. 
1. Entstehungsgeschichte. — Von den drei Sätzen des Artikels 
proklamiert der erste die „Gleichheit vor dem Gesetz“, der zweite die 
Abschaffung der „Standesvorrechte"“, der dritte die Zugänglichkeit der 
öffentlichen Amter für „alle dazu Befähigten". Die beiden letzten 
Sätze stehen zueinander in näherer Verwandtschaft, nämlich in dem 
Verhältnis einer allgemeinen Norm zu ihrer Spezialisierung: Satz 3 
hebt, folgernd und anwendend, einen Rechtssatz hervor, der in Satz 2 
bereits enthalten ist. Ob das Verhältnis auch der beiden ersten Sätze 
analog zu beurteilen, also der erste als Verallgemeinerung des zweiten 
anzusehen ist, hängt von der Deutung ab, die man dem ersten geben 
will. Hierüber bestanden und bestehen Meinungsverschiedenheiten. 
Eine verbreitete Auslegung erblickt Ziel und Tendenz des ersten 
Satzes nicht sowohl in der „Gleichheit vor dem Gesetze“ als in der 
„Gleichheit der Gesetze“ (Ausdruck der bayerischen Verfassungsurkunde 
vom 26. Mai 1818, Einleitung), entnimmt also dem Satze außer der 
einen Forderung, daß das Gesetz auf jeden, den es angeht, ohne An- 
sehen der Person, des Ranges und Standes anzuwenden ist, auch 
noch die andere, daß die Gesetze keinen Unterschied der Stände machen 
und für alle Staatsbürger möglichst die gleichen sein sollen. Danach 
wäre dann allerdings der zweite Satz des Artikels nur eine Folgerung 
und Anwendung des ersien, die Unterstreichung dessen, was der erste 
implicite schon sagt: die Verkündung der Rechtsgleichheit in der nega- 
tiven Form der Abschaffung der Standesvorrechte. Diese weite Aus- 
legung dürfte dem entsprechen, was ursprünglich, im Stadium des 
ersten Entwurfs, mit der „Gleichheit vor dem Gesetze“ gemeint war. 
In der Reg Vorl besteht der Artikel nur aus dem ersten seiner 
jetzgen drei Sätze und lautet (a. a. O. § 4): „alle Staatsbürger sind 
vor dem Gesetze gleich"“. Man glaubte unzweifelhaft, hiermit genug 
gesagt und nicht nur der unbedingten Verbindlichkeit der Gesetze, sondern 
auch dem Gedanken der bürgerlichen und politischen Rechtsgleichheit 
Ausdruck gegeben zu haben. Die Nat Vers war jedoch hierin, und mit 
Recht, anderer Meinung; sie hielt die Hinzufügung der beiden andern 
Sätze, jedenfalls des zweiten, nicht für überflüssig, sondern für er- 
forderlich, wenn man den eigentlichen Hauptzweck des Artikels erreichen
	        
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