Artikel 4. Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. 109
enthält und wer der ist, an den es sich richtet, rückhaltlos angewandt
werden soll. Der Satz ist eine Maxime nicht für den, der das Gesetz gibt,
sondern für den, der es handhabt; Gleichheit vor dem Gesetz ist in Wahr-
heit Gleichheit vor dem Richter und der Verwaltung. So ist die
Bestimmung auch bei den Rev.-Verhandlungen von der Mehrheit der Redner
verstanden worden; val. z. B. die Bemerkungen der Abgg. Triest, Baum-
stark, v. Daniels, I. K. a. a. O. S. 644, 646, 647. Zutreffend ist ins-
besondere, was Baumstark (a. a. O. S. 647) sagt: „Ich berufe mich auf
die allein richtige, allgemeine Bedeutung dieses Satzes, wonach man
ihn überall so versteht: jedermann, alt und jung, Weib und Mann,
arm und reich sollen vor dem Gesetze, unter welches sie mit ihren
Zuständen und mit bestimmten Handlungen gehören, gleich sein. So
versteht man ihn allgemein.“ Und mit Recht wies v. Daniels (ebenda)
darauf hin, daß Satz 1 eine alte Rechtswahrheit ausspricht, dieselbe,
welche das Römische Recht mit dem Satze legibus omnes Quirites
tenentur wiedergab und das ALR (Einl. § 22) in die Worte faßte:
„Die Gesetze des Staates verbinden alle Mitglieder desselben ohne
Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts.“ Ebenso meinte — um
diesen älteren Außerungen neuere an die Seite zu stellen — Justiz-
minister Beseler im Hdbg, 29. Nov. 1907 (Sten Ber 72), der Sinn
des Art. 4 Satz 1 sei der: „es kann ein Gesetz, wenn es Anwendung
findet, nur gegen jeden gleich angewendet werden, sei er hoch oder
niedrig, arm oder reich"; — und OV 56 235: „Wenn Art. 4 aus-
spricht, daß alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind, so hat dies nur
die Bedeutung, daß die Gesetze ohne Unterschied des Standes gegen
jeden in vollem Umfange angewendet werden sollen.“ Ganz miß-
verstanden wird Satz 1 dagegen von dem Abg. Tamnau (I. K. a. a. O.
S. 645): „Nicht die Gleichheit vor dem Richter wird mit dem Satze
beabsichtigt, sondern, daß das Gesetz keinen Unterschied machen solle.“
Gerade das Umgekehrte ist richtig: Satz 1 verbietet dem Richter, nicht
aber dem Gesetzgeber, Unterschiede zu machen. Die Freiheit des Ge-
setzgebers, das, was ihm verschieden erscheint, verschieden zu behandeln,
wird durch den Satz nicht geschmälert und ebensowenig das Recht der
Legislative, durch Privilegien und Dispensationen Ausnahmen von der all-
gemeinen Regel zu statuieren. Mehr als die im vorstehenden gekennzeichnete
Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichheit vor dem Richter bzw. der Ver-
waltung darf man aus Satz 1 nicht herauslesen. Über den Inhalt der
Gesetze sagt der Satz so wenig etwas aus wie über den Zustand der Ge-
sellschaftsordnung, er ist, isoliert betrachtet, mit mittelalterlicher Stände-
gliederung ebenso verträglich wie mit moderner Rechtsgleichheit, wie