Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

114 Arlikel 4. Der Begriff des „Standes“. 
„Stände“ im Sinne des zweiten Satzes sind auch nicht die 
Glaubensgemeinschaften, die Konfessionen. Die Gleichberechtigung der 
Konfessionen, Art. 12 Satz 2 und BG vom 3. Juli 1869, ist ein selb- 
ständiger, von Art. 4 unabhängiger Rechtsgrundsatz, nicht „nur eine be- 
sondere Anwendung des im Art. 4 allgemein ausgedrückten Prinzips“ 
(wie vRZ 2 8 irrtümlich annimmt; vgl. bei Art. 12 S. 220 und Art. 14 
S. 270, 271). 
Dies letztere, nämlich das dem zweiten Satze zugrundeliegende 
Prinzip darf, wie aus dem bisher Gesagten zur Genüge hervorgeht, 
nicht zu sehr verallgemeinert werden. Es bezieht sich nicht sowohl nicht 
auf solche Bevölkerungsgruppen, die überhaupt keine „Stände“ sind, als 
auch nicht einmal auf alle Gruppen, die in irgend einem sozialwissen- 
schaftlichen Sinne als Stände oder Klassen bezeichnet werden dürfen. Nicht 
zwar aus der sprachlichen Fassung des Satzes, die alle Stände (Klassen) ohne 
Unterschied zu treffen scheint, aber aus der Entstehungsgeschichte und 
aus dem Geist der Zeit, dessen Kind diese Proklamation der Rechts- 
gleichheit ist, ergibt sich, daß Satz 2 nicht jede Klassenscheidung und 
Gesellschaftsgliederung, sondern nur die aus dem Mittelalter herstammende 
geburtsständische Differenzierung hat treffen und verbieten wollen. 
„Stand" im Sinne von Art. 4 Satz 2 ist Geburtsstand, nicht 
Berufsstand; was fernerhin „nicht stattfinden“ soll, ist die Be- 
vorrechtung der Geburtsstände. Die Bestimmung ist in erster Linie 
retrospektiv zu verstehen, sie richtet sich zunächst und direkt gegen 
eine ganz bestimmte, historisch gewordene Ordnung der Dinge: die 
Gliederung des Volkes in die rechtlich gesonderten Geburtsstände des 
(hohen und niederen) Adels, der Bürger und der Bauern, — eine 
Ordnung, die übrigens zur Entstehungszeit der Verfassung in Preußen 
nur mehr als Uberbleibsel vorhanden und wesentlich schon durch die 
Reformgesetzgebung der Stein-Hardenbergschen Epoche, insbes. durch 
das Edikt vom 9. Okt. 1807, beseitigt worden war (vgl. vRZ 2 eff., 
Anschütz, Enzykl. S. 487). Satz 2 ist, wie seine Analoga in anderen 
Verfassungen und wie schon die gemeinsame Grundlage aller dieser Ver- 
fassungssätze, die Proklamation der Rechtsgleichheit durch die Konstituante 
von 1789, zu verstehen als Schlußglied der Umbildung der feudalen in 
die bürgerliche Gesellschaft. Alle diese Sätze reprobieren die geburts. 
ständische Sonderung der Vergangenheit, sie verbieten die rechtliche 
Formation neuer Geburtsstände, jede Art von Neofeudalismus, wäh- 
rend sie das Prinzip der freien Berufswahl als einen Leitgedanken 
der bürgerlichen Gesellschaft als selbstverständlich voraussetzen und die 
unter der Herrschaft dieses Prinzips sich bildenden modernen Berufs-
	        
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