170 Artikel 9. ALR Einleitung z 75.
Es würde hier vor allem § 75 der Einl. z. ALR in Frage kommen,
wonach „der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und
Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird,
zu entschädigen gehalten“ ist. Diese sehr allgemein gefaßte Bestimmung,
welche über den Kreis der i e. S. expropriativen Verwaltungsakte weit
hinausreicht (unrichtig Rehm a. a. O. 99: 3 75 regele „dieselbe Materie"
wie Art. 9), aber doch den Fall der Enteignung auch, und sogar in
erster Linie, mitumfaßt, ist durch Art. 9 Satz 2 weder ersetzt noch auf-
gehoben worden, vielmehr nach wie vor bestehen geblieben; — die Be-
streitung dieser Tatsache durch Rehm ist, wie bereits (Nr. 9 S. 168) be-
merkt ist, völlig mißlungen und wird, abgesehen von der konstanten
Gerichtspraxis, welche den §5 75 nach Erlaß der Verfassung fortwährend
anzuwenden nie Bedenken getragen hat, widerlegt durch die ausdrückliche
Aufrechterhaltung des 8 75 durch das preußische Ausf.-G. z. BSB vom
20. September 1899, Art. 89 Nr. 1a (vgl. auch Fleischmann in der
Ztschr. f. Eisenbahnrecht 20 296, 370 ff., O. Mayer im WSt VR 1 733,
Kleeberg, § 75 Einl z. A# und die Rechtsprechung des R (1909).
Aus § 75 läßt sich jedenfalls bei expropriativen Eingriffen der Ver-
waltung (von andern ist hier nicht zu reden; vgl. darüber unten S. 171ff.)
zugunsten des Enteigneten ein Entschädigungsanspruch herleiten in den
Fällen, welche das Enteignungsgesetz und die nebenhergehenden Reichs-
und Landesspezialgesetze (oben Nr. 9) ungeregelt gelassen haben. Vgl. meine
mehrfach zitierte Abhandlung, VArch 5 67 ff., 84 ff., 120 ff. Bei der An-
wendung des § 75 ist jedoch zu beachten, daß er nur im Landrechtsgebiete
gilt, indem er in den Provinzen des gemeinen und des rheinisch-französischen
Rechts weder jemals ausdrücklich eingeführt worden ist, noch auch zu den-
jenigen altländischen Normen gehört, welche vermöge allgemeiner staats-
rechtlicher Grundsätze (vgl. oben bei Art. 2 S. 87—90) als stillschweigend
auf die neueren Landesteile ausgedehnt gelten dürften. Übereinstimmend
mit dieser Ansicht insbesondere Fleischmann a. a. O. 21 424—427 und
Dreyer, VäArch 20 175 Nr. 38, auch wohl das OVG, Pr VBl 29 1031
(„mindestens zweifelhaft“). Fleischmann weist zutreffend darauf hin,
daß das R in Fällen, welche im Landrechtsgebiet nach § 75 zu be-
urteilen sind, für die Rheinprovinz sich nie auf diesen Paragraphen
berufen und ebenso ihn für das gemeinrechtliche Gebiet Preußens
niemals verwertet hat. Doch scheint sich in der neuesten Recht-
sprechung des Rö hierin eine Wandlung anzubahnen, insofern die
Entscheidung des VII. Zivilsenats vom 16. Oktober 1906 (64 186) zwar
immer noch daran festhält, daß eine formelle Einführung des 8 75
in der Rheinprovinz nicht erfolgt sei, sodann aber (in nicht durch-