Artikel 12. Religionsfreiheit im altpreußischen Staat. 185
Zwecken, mithin überhaupt keine Freiheit ließ, nichts Besonderes erblickt
werden darf. Wohl können, so sagt § 10 h. t., „mehrere Einwohner
des Staates zu Religionsübungen sich verbinden“, aber sie bedürfen
dazu der Genehmigung des Staates. Diejenigen, welche eine neue
Religionsgesellschaft gründen wollen, müssen sich „bei dem Staate ge-
bührend melden und nachweisen, daß die von ihnen gelehrten Mei-
nungen nichts enthalten, was dem Grundsatze des 5# 13 (nämlich der
dort vorgesehenen Pflicht jeder Religionsgesellschaft, ihren Mitgliedern
Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen
den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger ein-
zuflößen") zuwiderläuft“ (§ 21). Die so nachgesuchte Genehmigung
kann erteilt werden entweder in der Form und mit der Wirkung der
„öffentlichen Aufnahme" oder als einfache „Duldung". Es scheidet dem-
nach das ALR die Religionsgesellschaften in „öffentlich bzw. ausdrücklich
aufgenommene“ und „geduldete“. Offentlich aufgenommen waren nach
dem Rel.-Ed. vom 9. Juli 1788 (s. oben 184) die evangelische Kirche beider
Bekenntnisse und die römisch-katholische Kirche. Diese Kirchen i. e. S.
(ecclesiae receptae im Sprachgebrauch des 17./18. Jahrhunderts) gelten
als privilegierte Korporationen, ihre gottesdienstlichen Gebäude werden
Kirchen genannt, ihre Geistlichen haben die Rechte der Staatsbeamten,
ihnen steht das Recht des öffentlichen Gottesdienstes (exercitium reli-
gionis publicum) zu (§§ 17—19), sie stehen sich gegenseitig und im
Verhältnis zum Staat rechtlich überall gleich. Die „geduldeten“ Ge-
sellschaften werden als erlaubte Privatgesellschaften betrachtet, haben
nur das Recht des „Privatgottesdienstes“ (exercitium religionis pri-
vatum) ohne die herkömmlichen Zeichen und Merkmale der Offentlich-
keit (z. B. Glockengeläute), ihre Geistlichen genießen als solche keine
besonderen Rechte (§#§ 20—206). Tatsächlich gab es übrigens, und zwar
schon in vorlandrechtlicher Zeit, nicht nur die vom Gesetzgeber schärfer
als von der Praxis getrennten beiden Klassen der öffentlich ausgenom-
menen und der geduldeten Religionsgesellschaften, sondern auch noch
Zwischenformen: Gesellschaften, welche, mit einzelnen, aber nicht allen
Privilegien der Kirchen i, e. S. ausgestattet, weniger Rechte hatten
als letztere, aber mehr als die bloß geduldeten Bekenntnisse. Hierher
gehörten z. B. die Herrnhuter und Mennoniten.
Wie den unmittelbaren, so hatte der altpreußische Staat auch
jenen mittelbaren Glaubenszwang aufgegeben, welcher — anderwärts hier
und da bis in das 19. Jahrhundert hinein üblich — es für erlaubt und
geboten hielt, das Maß der bürgerlichen Rechte nach dem Glaubens-
bekenntnis abzustufen. Es galt also damals schon der Grundsatz der