Artikel 12. Begriff der Bekenntnisfreiheit. 191
derogatorischer Kraft gegenüber allen einschlägigen Bestimmungen der
älteren Gesetze, einerlei, ob die letzteren den Charakter von allgemeinen
oder von Spezialvorschriften haben, einerlei auch, ob sie materiell mit den
Grundsätzen des Artikels übereinstimmen (wie z. B. A#N II 11 55 1—4),
oder diesem zuwiderlaufen. Dies alles ist heute, nachdem die Staats-
regierung ihren, in den Jahren 1853—60 vertretenen abweichenden
Standpunkt, wonach Art. 12 zur Kategorie der konstitutionellen Mono-
loge gehöre, an die man sich nicht zu kehren brauche (Belege hierfür
bei v R 2 170, 171, Anmerkungen, vR 2 11, 12, 18 Anm. 2, Lasker,
Zur Verfassungsgeschichte Preußens (1874]), 11 ff.: vgl. auch oben
S. 95, 111), längst aufgegeben hat, in Theorie und Praxis unbestritten.
Vgl. namentlich die Rechtsprechung des O, welche die Vorschriften
des Artikels, unter Außerachtlassung der durch ihn aufgehobenen älteren
Normen, sortwährend anwendet; z. B. 16 389, 37 439 f., 43 165f f.
4. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses. — Bekenntnis,
„Konfession“, bedeutet hier soviel wie individnelle Glaubensüberzeugung.
Dieser UÜberzeugung ist Freiheit gewährt, wie sie schon das ALZR ge-
währte, in jenen schlichten und kräftigen Sätzen — oben S. 184 —,
die vielleicht der bestmögliche Ausdruck dessen sind, um was es sich
hier handelt. „Die Begriffe der Einwohner des Staates von Gott
und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können
kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein.“ Darin liegt der Begriff
der Bekenntnisfreiheit im wesentlichen beschlossen. Die Bekenntnis-
freiheit ist, wie die Religionsfreiheit überhaupt, eine Negative. Sie
ist — als objektiver Rechtszustand — die Negation jedes vom Staate
ausgeübten oder zugelassenen Zwanges für oder wider religiöse Uber-
zeugungen. Jedes Zwanges! Die Bekenntnisfreiheit schließt nicht
nur, wie andere grundrechtliche Bestimmungen, wie insbes. Art. 5
und 9 (oben S. 136, 161) gesetzlose Verwaltungsmaßregeln, sondern auch
Eingriffe des Gesetzgebers selbst aus. Auch Zwangsgesetze auf diesem
Gebiete sind durch jenen Landrechtssatz, II 11 § 1, verboten, und mit
Absicht. Auch als Gesetzgeber soll und will der Staat, der des ALK wie
der der Verfassung, seine Untertanen nicht verpflichten, „über ihre Privat-
meinungen in Religionssachen Vorschriften anzunehmen". Verfassungs-
widrig würde es auch sein, wenn der Staat solche „Vorschriften“ zwar
nicht selbst und im eigenen Interesse erläßt, aber zur Durchführung
der von den Religionsgesellschaften erlassenen seine Macht zur Ver-
fügung stellt. Auch unter dem Vorgeben des den Religionsgesell-
schaften geschuldeten Schutzes dürfte dies nicht geschehen. Der Staat
darf sich für keine Konfession — dies Wort im Sinne von Glaubens-