208 Art. 12. Vereins= u. versammlungspoliz. Stellung d. Religionsgesellschaften.
darf z. B. die Polizei eine Versammlung, auch eine religiöse, ebenso
wie jede Menschenmenge, die nicht zu einer förmlichen Versammlung
im Sinne des Gesetzes zusammengetreten ist, von einem baufälligen
Gebäude fernhalten: OG 42 413.
Niemals aber würde der Staat gegen eine Religionsgesellschaft aus
kirchlich-religiösen oder ethischen Gründen vorgehen dürfen. Denn er ist
weder Glaubens= noch Sittenrichter. Die Pflege und Verbreitung von
Anschauungen, welche der herrschenden Kirchenlehre oder Gesellschafts-
moral zuwiderlaufen, ist an sich nicht verboten, sondern erlaubt und
auch als Vereinszweck nichts, was von vornherein gegen die Straf-
gesetze verstößt (Art. 30, RVG §2, f. unten S. 532). Es ist daher
abwegig, wenn Fürstenau a. a. O. 218ff. eine Vorschrift wie ALi II 11
§* 13, wonach jede Religionsgesellschaft dem Staate gegenüber verpflichtet
ist, ihren Mitgliedern „Ehrfurcht gegen die Gottheit, sittlich gute
Gesinnungen usw. einzuflößen“, für annoch geltendes Recht hält und
daraufhin dem Staate das Recht zuspricht, Gesellschaften, welche jenen
Verpflichtungen nicht nachkommen, aufzulösen (die Fürstenausche Ansicht
teilt anscheinend auch Schwartz, Komm. 75 bei C). —
II. Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob und inwieweit der vor-
stehend S. 204 ff. geschilderte Rechtszustand durch das RVG vom 19. April
1908 abgeändert worden ist.
Die reichsgesetzliche Kodifikation des Vereins- und Versammlungs-
rechts erstreckt sich als solche, als Quelle zwingend-gemeinrechtlicher
Normen, nicht auf das kirchliche und religiöse Assoziationswesen; ge-
nauer: sie legt sich hinsichtlich dieser Kategorie von Vereinen und
Versammlungen nur subsidiäre Geltungskraft bei, landesrechtlicher
Sonderregelung den Vortritt lassend. Dies ist der Sinn des R,
§l# 24 Abs. 1. Dort heißt es:
„Unberührt bleiben
die Vorschriften des Landesrechts über kirchliche und religiöse
Vereine und Versammlungen, über kirchliche Prozessionen, Wall-
fahrten und Bittgänge sowie über geistliche Orden und Kon-
gregationen“.
Dieser Vorbehalt ist oft unrichtig ausgelegt worden. Bei der
Kommissionsberatung des RVG erklärte „ein Vertreter der verbündeten
Regierungen“ auf Anfrage, das kirchliche Versammlungs- und Vereins-
wesen sei von den Bestimmungen des RVG# „überhaupt ausgeschlossen“
(vol. den Komn Ber, Reichstag 1907/08 Drucks. Nr. 819 S. 102). Dieses
Urteil hat nur den Wert einer persönlichen Meinungsäußerung, und
zwar einer verfehlten (ebenso: Stier-Somlo, Komm. z. RVG 235). Die