Artikel 12. Religionsunterricht der Dissidentenkinder. 233
Vorbehalt des Gesetzes vom 9. November 1867 ist bei der Beratung vom
Reichstage gestrichen worden, vgl. vRZ3 2 211 N. 2) unbegründet.
Über Petitionen, welche den entgegengesetzten Standpunkt vertraten
bzw. die Herstellung der Militärfreiheit der genannten Sekten begehrten,
ist der Reichstag zur Tagesordnung übergegangen: vR3 a. a. O. N. 2;
über das frühere preußische Recht s. daselbst 209, 210.
Niemand darf, wie bereits erwähnt, auf Grund des dritten Satzes
von Staats wegen gezwungen werden, Kultus- oder andere religiöse
Handlungen vorzunehmen oder sich an solchen — gleichviel, ob sie
einer dem Genötigten fremden oder seiner eigenen Konfession an-
gehören — zu beteiligen: Teilnahme am Gottesdienst kann niemals
Bürgerpflicht sein (vgl. oben S. 195). Auch auf die besonde-
ren Gehorsamspflichten der Beamten und Militärpersonen würde eine
solche Nötigung nicht gerechtfertigt werden können: vgl. oben 195.
Ebensowenig durch die besonderen Befugnisse der Schule gegenüber
den Schülern. Letztere können zur Teilnahme an dem von und in der
Schule veranstalteten Gottesdienst („Schulgottesdienst“) nicht gezwungen
werden (zustimmend Entsch. des OLG# Cöln v. 10. Febr. 1909, Ztschr.
f. Polizei-- und Verwaltungsbeamte 1909, 540).
Dagegen steht es nicht im Widerspruch mit der Verfassung noch
mit dem sonst geltenden Recht, wenn die Schulpflicht auf den Religions-
unterricht eines bestimmten Bekenntnisses erstreckt wird. Unstreitig
ist zunächst, daß die Schulpflicht zu den „bürgerlichen und staatsbürger-
lichen Pflichten“ im Sinne des dritten Satzes gehört (so auch die oben
S. 232 zitierte Entsch, des KG, betr. Schulversäumnis von Adventisten-
kindern). Ferner ist nicht zu bezweifeln, daß die Unterrichtsverwaltung
nicht sowohl befugt als vielmehr rechtlich verpflichtet ist, den Religions-
unterricht in den beiden christlichen Hauptbekenntnissen (nicht in einer
nichtchristlichen Konfession, vgl. unten bei Art. 14 S. 274, 275) unter die
obligatorischen Lehrgegenstände der öffentlichen Volksschule aufzunehmen
(s. hierüber bei Art. 24 S. 438, 447) und daß sonach evangelisch zu erziehende
Kinder an dem evangelischen, katholisch zu erziehende an dem katholischen
Religionsunterricht teilnehmen müssen. Die Unterrichtsverwaltung geht
aber, namentlich in ihrer neueren Praxis, noch weiter und hält sich
für berechtigt, auch die sog. „Dissidentenkinder“, d. h. — in diesem
Sinne — Schulkinder, deren Vater (bzw. derjenige Elternteil, dessen
Bekenntnis nach Maßgabe der hierüber geltenden gesetzlichen Be-
stimmungen über die Konfessionalität der dem Kinde zu erteilenden
religiösen Erziehung und Unterweisung entscheidet, vgl. oben S. 194)
weder einer der beiden christlichen Hauptkonfessionen noch dem Juden-