Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 14. Bedeutung im allgemeinen. 265 
und einfache Proklamierung der Religionsfreiheit und des Selbst- 
verwaltungsrechts der Religionsgesellschaften, so wie sie in den Entwürfen 
und in der oktr V enthalten war, jedem Festhalten an der überlieferten 
Bevorrechtung der „öffentlich ausgenommenen Religionsgesellschaften“, 
der christlichen Kirchen, entgegenstehe. Beide Kammern hielten eine 
Auslegung der Art. 12 und 15 wenn nicht für geboten, so doch für 
erlaubt, wonach die dort den Religionsgesellschaften gewährte Freiheit 
und Selbständigkeit auch die volle obligatorische Gleichheit unter 
sich und im Verhältnis zum Staat in sich schließe. Man glaubte, 
daß das Staatskirchenrecht der oktrV Kirche und Staat nicht sowohl 
trenne als vielmehr einander entfremde; daß der Staat auf dem 
Gebiete von Religion und Kirche fortab auf jede spezifische und 
differenzierende Schutztätigkeit (ius advocatiae, Advokatic) zu ver- 
zichten habe; daß er nur entweder alle Religionsgesellschaften, Kirchen 
und Sekten, gleichmäßig oder keine privilegieren dürfe. Kurzum, 
man interpretierte den Satz, den die Frankfurter Paulskirche mit 
vollem Bewußtfein als treffenden Ausdruck der reinen und restlosen 
Trennung von Staat und Kirche in die Grundrechte des deutschen 
Volkes ausgenommen hatte: „Keine Religionsgesellschaft genießt 
vor andern Vorrechte durch den Staat, es besteht fernerhin 
keine Staatskirche“ (RV von 1849, §. 147 Abs. 2, val. oben S. 212, 
226 ff., 246) in die oktrV hinein. Und da die Berliner Revisionskammern, 
anders als das Frankfurter Parlament, jene reine und restlose Trennung 
nicht wollten, sondern verwarfen, da man weit entfernt davon war, den 
Staat zu verpflichten oder auch nur zu berechtigen, allen Religions- 
gesellschaften die gleiche Interesselosigkeit entgegenzubringen, so hielt 
man es für angezeigt, in die Verfassung einen Satz aufzunehmen, 
welcher das reine Trennungsprinzip ausdrücklich ausschloß. Dieser Satz 
ist der Art. 14. 
Die angegebenen kirchenpolitischen Bedenken waren freilich dem 
Text und Sinn der oktr V gegenüber unbegründet. Die Staats- 
regierung teilte sie nicht. Sie dachte nicht daran, den Staat gänzlich 
zu „entchristlichen“, wie es namentlich die Hochkirchenmänner von der 
Farbe Stahls, v. Gerlachs und anderer befürchteten. Wiederholt hat 
der Kultusminister v. Ladenberg in diesem Sinne vor beiden Kammern 
das Wort ergriffen (s. oben S. 263) und schon in seine „Erläuterungen, 
die Bestimmungen der Verf.-Urk. vom 5. Dezember 1848 über Religion, 
Religionsgesellschaften und Unterrichtswesen betreffend“ (Berlin 1848) die 
beruhigenden Sätze aufgenommen (von ihm selbst zitiert, I. K. 974): „Der 
Staat, indem er sich von den Religionsgesellschaften scheidet, kann
	        
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