Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 15. Bedeutung des Artikels im Allgemeinen. 293 
denen mit Recht Widerstand geleistet werden dürfe. Eine Beseitigung 
dieses unerträglichen Zustandes könne nur gelingen, „wenn das Ver- 
hältnis zwischen Staat und Kirche nicht ferner durch allge- 
meine, der Mißdeutung fähige Gesetze, sondern lediglich durch 
eingehende Spezialgesetze geregelt wird, also eine Anderung 
der Büu erfolgt.“ Deshalb werde die Aufhebung des Art. 15 vor- 
geschlagen . . . „Die Aufhebung des Art. 16 findet ihre Rechtfertigung 
darin, daß das Vertrauen, unter dem den Religionsgesellschaften der 
Verkehr mit ihren Obern ungehindert freigegeben und die Bekannt- 
machung kirchlicher Anordnungen nur solchen Beschränkungen unter- 
worfen worden ist, welchem alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen, 
in den letzten Zeiten schwer getäuscht worden ist. Es braucht nur 
an die Enzyklika des Papstes an den preußischen Episkopat vom 
5. Februar ds. Is. (1875, s. oben S. 292) erinnert zu werden, um die 
Notwendigkeit darzutun, daß das Ubermaß freier Bewegung, welches 
der gedachte Artikel gewährt, in Grenzen zurückgeführt werden muß, 
welche mit dem Staatswohl verträglich sind. Die Bestimmung des 
Art. 18 enthält die Entwicklung des im Art. 15 niedergelegten Gedankens 
für einen einzelnen Fall; die Aufhebung des Art. 15 führt daher in 
logischer Konsequenz auch zur Aufhebung des Art. 18.“ — 
2. Die Bedentung des Artikels im allgemeinen. — Die obersten 
Streitfragen über Sinn und Bedeutung des Artikels sind durch das 
Gesetz vom 5. April 1873 — s. oben S. 282, 290ff. — nicht nur für die 
Praxis, sondern auch für die Rechtswissenschaft endgültig und unan- 
fechtbar zum Austrag gebracht. Dieses in den Formen der Verfassungs- 
änderung ergangene Gesetz deklariert den Inhalt des Artikels, unter 
formeller Aufhebung seines Textes, authentisch dahin: die den Kirchen 
und anderen Religionsgesellschaften verliehene Selbständigkeit in der 
Verwaltung und Ordnung ihrer Angelegenheiten sowie der Besitz und 
Genuß der für kirchliche Zwecke bestimmten Anstalten usw. sind zu 
verstehen vorbehaltlich der Unterwerfung der Kirchen unter die Staats- 
gesetze und die durch diese Gesetze geregelte Staatsaufsicht. Der 
Artikel ist von vornherein so gemeint gewesen, daß er dieses Unter- 
werfungsverhältnis nicht hat beseitigen wollen. Ein Unterschied zwischen 
„allgemeinen“ (auch die Kirche angehenden) und „besonderen (nur 
die Kirche angehenden) Gesetzen besteht nicht: die Staatsgesetze sind für 
die Religionsgesellschaften schlechthin verbindlich, einerlei ob sie allge- 
meines, d. h. auf Religions= und andere Gesellschaften anwendbares 
Recht oder ob sie für die Religionsgesellschaften oder für einzelne 
Religionsgesellschaften ein Sonderrecht setzen. (Das Wort „allgemeinen“
	        
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