296 Artikel 15. Das kirchenpolitische System der Verfassung.
der fünfziger und sechziger Jahre (s. oben S. 286 ff.), auf die man sich
zum Beweise des Gegenteils mit Vorliebe beruft, wird hierbei in
ihrer Einseitigkeit verkannt. Sie war einseitig, weil sie lediglich der
katholischen Kirche die Freiheit von „besonderen Staatsgesetzen“
gewährte. Die andern Religionsgesellschaften haben diese angeblich
durch Art. 15 gebotene und eingeführte Freiheit niemals genossen. Die
evangelische Kirche unterlag nicht nur tatsächlich (fortdauernde Konsistorial-
verfassung), sondern auch rechtlich (Zuständigkeit des Kultusministers und
der Bezirksregierungen in kirchlichen Angelegenheiten nach dem Ressort-
Reglement vom 29. Juni 1850, oben S. 287 und Schoen, Evangelisches
Kirchenrecht 1 77, 78) einer „spezialisierten Staatsaufsicht“ (Kahl, Lehr-
system 1 194; zur Illustration vgl. den Min Erl vom 30. September 1874,
abgedruckt bei Hinschius, Preuß. Kirchenrecht 294, 295). Das Gleiche gilt
von den jüdischen Synagogengemeinden, nach Maßgabe des Gesetzes
über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847, dessen aufsichts-
rechtliche Bestimmungen (vgl. insbesondere die Rechte der Bezirks-
regierung nach # 36, 42, 43, 48—50) keineswegs als durch Art. 15
beseitigt angesehen wurden. Es ist also unrichtig, wenn man behauptet,
daß in der Staatspraxis nach 1850 die differenzierende Entwicklung
und Handhabung der Kirchenhoheit auf Grund „besonderer Gesetze“ für
verfassungswidrig gegolten habe. Diese Behauptung verwechselt die
damalige Passivität der Staatsregierung gegenüber der katholischen
Kirche mit ihrer kirchenpolitischen Haltung überhaupt.
Es ist nunmehr der Frage näherzutreten, welche der im allge-
meinen bekannten und gangbaren Grundformen der Ordnung des Ver-
hältnisses von Staat und Kirche in der Verfassung zum Ausdruck gelangt;
anders: welches kirchenpolitische System das der Verfassung ist.
Vorauszuschicken ist, daß man zu diesem Behuf Art. 15 nicht
isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit den andern religionsrecht-
lichen und kirchenpolitischen Bestimmungen der Verfassung, Art. 12—14,
16—19 betrachten darf. Alle diese Artikel bilden, darauf wird man
insbesondere durch das Studium der Revisionsverhandlungen hingeführt,
ein einheitliches System, welches nicht auseinandergerissen werden darf,
sondern als Ganzes begriffen sein will. Von welcher Art ist dieses System?
Die beiden Grundtypen der in Rede stehenden Verhältnisordnung
sind die Einheit und die Verschiedenheit oder Trennung von
Staat und Kirche. Innerhalb des Einheitsprinzips liegen die gegen-
sätzlich verschiedenen Systeme des Kirchenstaatstums und Staatskirchen-
tums, innerhalb des Verschiedenheits-(Trennungs-) Prinzips die der Koordi-
nation von Staat und Kirche, der Staatskirchenhoheit und der reinen