Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

302 Artikel 15. Trennung von Staat und Kirche nach der Verfassung. 
und ganz Deutschland geltenden kirchenpolitischen Systeme wesentlich 
(ogl. auch oben 212, 226 f., 246, 264 f.). Der Staat mißt, in Aufsicht 
und Schutz, die verschiedenen Religionsgesellschaften nicht nach einerlei 
Maß, sondern differenziert: er trägt insbesondere der geschichtlich 
gewordenen Macht und Bedeutung der großen christlichen Kirchen, der 
Landeskirchen, dadurch Rechnung, daß er sie, die, von seinem 
Standpunkte aus gesehen, fähig sind zum Guten gleichwie zum Bösen, 
einerseits in erhöhtem, andern Religionsgesellschaften nicht gewährten 
Maße schützt und fördert, ihnen seine Gunst bezeigt (Advokatie, Schutz- 
recht) andererseits sie in dem entsprechenden Maße seine Macht fühlen 
läßt, sie strenger als die andern überwacht (Aufsichtsrecht). 
An dem vorstehend geschilderten kirchenpolitischen Syslem ist bis 
heute nichts geändert, weder durch die Deklaration vom 5. April 1873 
noch durch die Aufhebung der Art. 15, 16 und 18, noch durch die 
spätere Gesetzgebung. Die Deklaration hat die Grundgedanken des 
Systems nur schärfer und klarer herausgearbeitet, indem sie die Auf- 
sichtsgewalt, welche der ursprüngliche Text des Art. 15 zwar nicht preis- 
geben wollte, aber, unter einseitiger Hervorhebung der advokatorischen 
Seite der Kirchenhoheit (Art. 15 Nachsatz, Art. 14 und 24 Abs. 1, 2) 
mit Stillschweigen überging, ausdrücklich als verfassungsmäßiges Recht 
des Staates bezeichnete, — ein Recht, welches sodann durch die Gesetz- 
gebung von 1873—1887 insbesondere der katholischen Kirche gegenüber 
eine umfassende Wiederherstellung, Neuordnung und Verstärkung erfuhr. 
Diese Neugestaltung der aufsichtlichen Seite der Staatskirchenhoheit, be- 
ruhend auf dem oben angegebenen Grundsatz der Imparität und 
Spezialisierung, demgemäß größtenteils bestehend aus „besonderen“ 
Gesetzen (oben S. 293, 294), welche nicht nur zwischen Religionsgesell- 
schaften und anderen Gesellschaften, sondern auch zwischen den Landes- 
kirchen und den übrigen Religionsgesellschaften und wieder zwischen 
der einen, evangelischen, und der andern, katholischen, Landeskirche 
unterscheiden, ist durch die Aufhebung der Art. 15, 16 und 18 durch 
das Gesetz vom 18. Juni 1875 (oben S. 282, 293) nicht berührt 
worden, vielmehr geschah die Aufhebung gerade zu dem Zweck, um 
der Neugestaltung den Boden zu ebnen und die einzelnen kirchen- 
politischen Gesetze jeder Bestreitung ihrer Verfassungsmäßigkeit zu ent- 
rücken loben S. 292). 
Die in den aufgehobenen Artikeln enthaltenen Bindungen der lirchen- 
politischen Gesetzgebung sind nunmehr beseitigt. Diese Gesetzgebung 
hat jetzt freie Hand nicht nur in der Gestaltung der Einzelheiten des Ver- 
hältnisses von Staat und Kirche, sondern auch in prinzipieller Hinsicht.
	        
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