Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 15. Gesetzeskraft des Artikels. 303 
Da insbesondere seit Aufhebung des Art. 15 die kirchliche Selbständigkeit 
einerseits, die staatliche Aufsichtsgewalt andererseits nicht mehr ver- 
fassungsrechtlich fundiert sind, involvieren Abschwächungen und Ver- 
stärkungen des einen wie des andern Rechts keine Verfassungsänderung 
und könnte insoweit ebenso die Rückkehr zum Staatskirchentum wie 
der Schritt zum reinen Trennungssystem im Wege der einfachen Gesetz- 
gebung erfolgen. Doch würde die Einführung der reinen Trennung 
zurzeit noch auf anderweite, vorerst zu beseitigende Verfassungshinder- 
nisse stoßen: die Art. 13, 14, 24 Abs. 1, 2. Von den dort festgelegten 
Prinzipien — Erschwerung der Erlangung der Rechtsfähigkeit seitens 
der Religions- und geistlichen Gellschaften, staatliche Berücksichtigung des 
Christentums, Konfessionalität der Volksschule — verträgt sich keins mit 
dem Gedanken der reinen Trennung. 
3. Gesetzeskraft des Art. 15. — Zu den Sätzen der Verfassung, 
welche bloße Verheißungen, vom Gesetzgeber nach Gefallen einzulösende 
Wechsel auf die Zukunft darstellen — vgl. oben S. 94 — gehört 
Art. 15 nicht. Er ist nicht nur Direktive für Gesetze, die erst noch zu 
geben sind; — er ist das allerdings auch, wie man sich denn schon 
bei den Revisionsverhandlungen darüber klar war (vgl. oben S. 285, 
287, 288, unten S. 309 ff.), daß die hier proklamierte Freiheit vom 
Staat zumindest für die evangelische Kirche ohne eingehende Aus- 
führungsgesetze ein toter Buchstabe bleiben werde — sondern er ist 
selbst schon Gesetz, aktuelles und anwendbares Recht, neues Recht, 
welches das ihm widersprechende alte beseitigt hat. So, als Gewährung 
und nicht als bloße Verheißung der Kirchenfreiheit, haben schon die 
verfassunggebenden Faktoren den Artikel aufgefaßt; sie waren sich, wie 
die oben S. 284 f. in ihrem wesentlichsten Inhalt wiedergegebenen 
Revisionsverhandlungen beweisen (vgl. z. B. die Rede des Abg. v. Ammon 
in der I. K., oben S. 285, sowie die Bemerkung in dem Bericht des 
ZAussch, daß die Grundsätze des Artikels, einmal sim Art. 12 oktr V 
ausgesprochen, auch schon zur Anwendung gekommen seien, oben S. 285), 
bewußt, mit dem Artikel etwas sehr Wichtiges, unmittelbar Eingreifendes 
zu beschließen. Auch die Verwaltungspraxis nach Inkrafttreten der 
Verfassung hat dem Artikel volle Gesetzeskraft beigemessen; sie hat 
— wie oben S. 287 ff. gezeigt — das Maß seiner derogatorischen 
Wirkung sogar lange Zeit sehr überschätzt, jedenfalls aber den Artikel 
nie für ein aktuell wirkungsloses, in diesem Sinne unpraktisches Prinzip 
gehalten. Nicht anders wurde und wird der Artikel vor und nach 
seiner Aufhebung (die man doch auch nicht nötig gehabt hätte, wenn 
man der Meinung gewesen wäre, der Artikel sei bloß Zukunfts- und
	        
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