304 Artikel 15. Dreifache Wirkung des Artikels.
nicht Gegenwartsrecht) von der Rechtsprechung beurteilt; namentlich
dem O gilt er durchaus als anwendbares Recht: val. Entsch. 8 395,
396, 19 431, 432, 436 ff., 20 455. Mit demselben Recht wie dem
Art. 15 könnte und müßte man auch den mit ihm eng zusammenge-
hörigen Art. 16 und 18 die aktuelle, insbesondere derogatorische Wirk-
samkeit absprechen, was bisher noch niemand getan hat.
Die Wirkung des Artikels ist eine dreifache. Er wirkt rechtsbe-
gründend, rechtsaufhebend und gewährleistend. Er begründet die Freiheit
der Kirche vom Staat, das Recht der Kirchen und aller andern Reli-
gionsgesellschaften auf selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer An-
gelegenheiten. Er hebt alle Rechtssätze und Staatshoheitsrechte auf,
welche mit dieser Freiheit unverträglich sind. Er gewährleistet den
Religionsgesellschaften im Rahmen der von ihnen erworbenen und zu
erwerbenden Rechte den Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unter-
richts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und
Fonds. Diese dreifach verschiedene Bedeutung des Artikels ist einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen und dabei zu fragen, wie die
Aufhebung des Artikels in jeder der drei Richtungen gewirkt hat.
4. Das Recht der Religionsgesellschaften auf selbständige Ord-
nung und Berwaltung ihrer Angelegenheiten. — Gibt Art. 12 den
Religionsgesellschaften die Freiheit des Entstehens (vgl S. 197 ff.), so
gewährt ihnen Art. 15 die Freiheit des Lebens und der Tätigkeit: das
Selbstbestimmungsrecht. Freiheit heißt hier, wie oben (S. 300 ff.) ein-
gehend dargelegt, Freiheit vom Staat. Und damit ist wieder ein
Doppeltes gesagt: erstens Verschiedenheit von Kirche und Staat, zweitens
Aufhören der Verwaltung der Kirche durch den Staat.
I. Der Staat erkennt in der „Kirche“, — richtiger: in allen
bestehenden und künftig, auf Grund der Vereinigungsfreiheit des
Art. 12 neu sich bildenden Religionsgesellschaften selbständige, d. h.
von ihm, dem Staate, im Willen wie im Wirkungskreise verschiedene
Gemeinwesen an. Die „Angelegenheiten“ einer jeden Religionsgesell-
schaft sind „ihre“ Angelegenheiten, der sie „ordnende und ver-
waltende“ Wille ist ihr Wille, d. h. — unbesehen, welche juristischen
und natürlichen Personen als Subjekte und Träger dieses Willens er-
scheinen mögen (s. darüber unten S. 311ff.) — nicht Staatswille, sondern
ein von der Staatsgewalt verschiedener Wille.
II. Der Staat verzichtet im Art. 15 darauf, die Kirche als Staats-
anstalt, die kirchlichen Angelegenheiten als Staatsangelegenheiten zu
betrachten, oder sie so zu behandeln, als wären sie solche. Die Reli-
gionsgesellschaft ist für den Staat nicht ein Stück von ihm, sondern