Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 15. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften. 305 
ein von ihm verschiedenes Rechtssubjekt, ein „anderer“; der Wirkungskreis 
dieses anderen nicht ein Stück Staatszweck, sondern etwas anderes. 
Ein anderer und ein anderes, welche freilich um deswillen, weil 
sie verschieden sind von der Staatspersönlichkeit und dem Staatszweck, 
nicht etwa aufhören, dem Staate unterworfen zu sein. Der Artikel 
trennt Staat und Religionsgesellschaft, aber er setzt sie nicht auf den 
Fuß von gleich und gleich. Er steht nicht auf dem Boden der Ko- 
ordinationslehre. Der Sagz, daß alle Freiheit rechtlich, also staatlich 
beschränkte Freiheit ist, macht vor dem religionsgesellschaftlichen Selbst- 
bestimmungsrecht des Art. 15 nicht halt: was „Angelegenheit“, was 
„ordnen und verwalten“, was „selbständig“ ist im Sinne des Artikels, 
wird durch die Staatsgesetze bestimmt und begrenzt. Die Freiheit 
des Art. 15 ist zu verstehen vorbehaltlich der Staatsgesetze 
und der durch diese Gesetze näher zu regelnden Staatsauf- 
sicht. Davon und daß dieses alles nicht erst durch die deklarierte 
Fassung des Artikels neu eingeführt wurde, sondern in dem ursprüng- 
lichen Text bereits enthalten war, ist oben (S. 293ff., 297, 298) aus- 
führlich die Rede gewesen. 
Hier aber ist noch näher einzugehen auf die rechtliche Natur des 
religionsgesellschaftlichen Selbstbestimmungerechts, auf seine Gegenstände 
und seine Träger. 
I. Die rechtliche Natur des religionsgesellschaftlichen 
Selbstbestimmungsrechts. — Das „Ordnen und Verwalten“" im 
Sinne des Artikels hat nichts Souveränes, nichts irgendwie der Staats- 
tätigkeit Gleiches oder Ahnliches, überhaupt nichts Offentlichrechtliches 
an sich. Die Worte „ordnen und verwalten“ bezeichnen, wie der Bericht 
jener Kommission des AbgP#von 1873 (s. oben S. 291) richtig be- 
merkt, keine souveräne Gesetzgebungsgewalt; — sie können dies schon 
deshalb nicht bedeuten, weil, bei der grundsätzlichen Gleichstellung aller 
Religionsgesellschaften unter sich, diese Gewalt nach Art. 15 allen gleich- 
mäßig zustehen und somit nicht nur die katholische Kirche, sondern quch 
jede kleinste Sekte als „souverän“, als Staat im Staate erscheinen 
würde. Das „Ordnen und Verwalten“ ist aber weitergehend über- 
haupt keine öffentlichrechtliche, sondern a priori eine rein privatrecht- 
liche Tätigkeit: „Ordnen und verwalten“ heißt nicht befehlen und 
zwingen in den Formen und mit den Mitteln des öffentlichen Rechts, 
sondern Willenserklärungen abgeben und Geschäfte besorgen in den 
Formen und mit den Mitteln des Privatrechts. Und diese rechtliche 
Natur des durch Art. 15 gewährten Selbstbestimmungsrechts ist für 
alle Religionsgesellschaften grundsätzlich die gleiche. 
Anschütz, Preuß. Verfassungs-Urkunde. I. Band. 20
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.